Es reicht

Von der Klarheit und dem Geheimnis. Acrylbild auf Leinwand (80 cm x 60 cm) von Gabriele Koenigs (2017).  Als Original erhältlich
Von der Klarheit und dem Geheimnis. Acrylbild auf Leinwand (80 cm x 60 cm) von Gabriele Koenigs (2017). Als Original erhältlich

Kai geht manchmal auf den Flughafen. Ihm gefällt das emsige Treiben dort, das Kommen und Gehen. Das Interessanteste sind die Reisenden aus aller Welt. Er liebt es, mit diesem und jenem ins Gespräch zu kommen. Er hört dort die besten Geschichten. Manche von ihnen fließen in seine Bücher ein.

 

Beim Abfertigungsschalter fallen ihm zwei Frauen auf. Nur eine von ihnen hat Reisegepäck dabei. Die andere stützt sich mit einem Gehstock. Sie wirkt betrübt. Anscheinend geht sie nicht mit auf die Reise. Vor der Sicherheitskontrolle müssen die beiden Abschied nehmen. Sie nehmen einander in den Arm. „Lebe wohl“, sagt die Frau mit dem Gehstock. „Bleib mutig! Pass gut auf dich auf! Und denk immer dran: Es reicht!“

„Du Liebe“, erwidert die Reisende. „Denk du bitte auch dran. Versprichst du mir das? Es reicht wirklich. Wir hören voneinander. Wir bleiben in Verbindung. Behüt dich Gott!“

 

Die Zurückbleibende hat feuchte Augen. Sie geht die Rolltreppe hoch bis zur Dachterrasse. Dort oben nimmt sie Platz. Sie schaut nach draußen. Mehrere Flugzeuge stehen dort abflugbereit.

 

Kai stellt sich neben sie. Er reicht ihr ein Tempotuch. „Abschiedsschmerz?“ „Allerdings“, sagt die Frau. „Ich habe keine Ahnung, ob ich Johanna jemals wiedersehen werde. Sie ist zu einem großen Abenteuer aufgebrochen. Sie will in Afrika in einem Entwicklungshilfeprojekt mitarbeiten. Ich vermisse sie jetzt schon so sehr. Sie ist meine beste Freundin. Am liebsten wäre ich mit ihr gegangen. Aber ich bin nicht mehr so fit. Ich kann nicht mit.“

 

„Entschuldigen Sie bitte“, sagt Kai. Ich bin Schriftsteller. Zufällig habe ich gehört, wie Sie voneinander Abschied genommen haben. Darf ich Sie fragen, was das bedeutet: „Es reicht!“ Ich habe noch nie gehört, dass jemand das zum Abschied sagt. Was meinen Sie damit?“

 

Ein Lächeln huscht über Franziskas Gesicht. „Wir sagen das oft zueinander. Für jede von uns hat es eine spezielle Bedeutung.“

Kai schaut erstaunt. „Wie meinen Sie das?

Meine Freundin sagt immer wieder: „Es reicht“. Wenn sie die Zeitung liest oder Nachrichten hört, bekommt sie einen heiligen Zorn. Hungernde Kinder in Afrika, Kriege, Umweltzerstörung. Es wird Zeit, dass das endlich aufhört“, sagt sie. Es war schon viel zu lange so. Es muss endlich anders werden. Darum ist sie jetzt zu dem großen Abenteuer aufgebrochen. Sie möchte etwas dazu beitragen, dass die Welt besser wird.

 

„Als ich jung war, dachte ich auch so“, sagt Kai. „Aber dann habe ich mich an das Elend gewöhnt. Und ich hatte immer genug zu tun, um mich und meine Familie über Wasser zu halten.“

 

„Als ich jung war, war der Krieg noch nicht lange vorbei“, sagt Franziska. „Meine Eltern waren aus der Heimat vertrieben. Wir hatten kaum das Nötigste. Es hat an allem gefehlt. Es hat lange gedauert, bis das besser geworden ist. Heute habe ich genug. Aber immer wieder überkommt mich die Angst, ob es reicht. Wenn Gäste kommen, koche ich immer zu viel, vor lauter Angst, es könnte nicht reichen. Johanna lacht mich dann aus und sagt: ‚Es reicht, ganz bestimmt!‘ Wir lachen zusammen die alte Furcht aus. Sie sitzt mir noch in den Knochen. Aber etwas Neues möchte geboren werden, in mir und in vielen anderen Menschen. Vertrauen, Liebe, Großzügigkeit. Nur damit können wir die Zukunft bestehen.“

 

Die beiden schweigen eine Weile. Sie schauen nach draußen auf das Rollfeld. Die Passagiere steigen dort ein. Berge von Koffern werden ins Flugzeug geladen. Kai sagt nachdenklich: „Die meisten nehmen viel zu viel Zeug mit. Dabei braucht man im Grunde gar nicht so viel.“

 

Franziska nickt. „Das Wichtigste haben wir nicht im Koffer, sondern im Herzen. Gute Erinnerungen, Freundschaft und Liebe, Mut, Gottvertrauen. Im Grunde reicht das.“

 

„Ja, das ist wirklich wahr“, sagt Kai. „Und Geschichten. Gute Geschichten geben große Kraft. Darum erzähle ich sie so gerne. Das ist mein Beitrag für die neue Zeit."

 

„Lassen Sie mich nun noch eine Weile allein“, sagt Franziska. Es war schön mit Ihnen. Aber nun ist es gut. Leben Sie wohl!“

„Das wünsche ich Ihnen auch“, sagt Kai. „Alles, alles Gute für Sie. Ich werde an Sie und Ihre Freundin denken. Und wer weiß, vielleicht kommen Sie eines Tages in einer Geschichte vor?“ (Geschichte von Gabriele Koenigs, anknüpfend an eine Idee von Bob Perks)

 

Ich habe diese Geschichte für euch und für Sie in den letzten Tagen geschrieben. Es ist noch kein neues Bild dazu entstanden. Das Bild, das ich heute zeige, ist schon älter. Es spricht von der Klarheit und dem Geheimnis. Beides gehört zu unserem Leben. Beides gehört auch zu dem neuen Jahr, das begonnen hat.

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen ein gutes, gesegnetes neues Jahr.

 

Gabriele Koenigs


Hier kommt ein schönes Morgenlied: "Gelobt sei deine Treu...". Der Text stammt von Gerhard Fritzsche aus dem Jahr 1938. Es findet sich in vielen Gesangbüchern. Möglicherweise haben Sie Lust, es in Ihrem Gesangbuch zu suchen und mitzusingen?

 

Viel Freude beim Anhören und Mitsingen!

 

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Und hier kommt ein Lied meiner Freunde Mark Fox  und Angelika Thome. Es ist ganz aktuell und voller Hoffnung. Es ist kurz und eingängig. Wir singen es mit vielen Wiederholungen, damit es tief ins Herz und ins Bewusstsein einsinkt. Vielleicht mögen Sie das auch tun?