Von einem, der standhalten lernte

standhaft. Aquarell von Gabriele Koenigs (2019)
standhaft. Aquarell von Gabriele Koenigs (2019)

Joe war ein Stotterer. Niemand sonst in seiner Familie stotterte. Seine Brüder und seine Schwester konnten ganz normal sprechen, seine Eltern auch. Es war fürchterlich. Er wollte so gerne ausdrücken, was er fühlte und dachte. Aber die Worte kamen einfach nicht über seine Zunge. Er war sehr oft verzweifelt. Am schlimmsten war es, wenn die Leute über ihn lachten. Wer würde lachen über jemand, der im Rollstuhl sitzt oder eine Armprothese hat? Wer würde einen Blinden auslachen oder jemanden mit Gehhilfe? Bei Stotterern ist es anders. Die Leute lachen. Erwachsene und Kinder, Schulkameraden, Nachbarn, Fremde und Bekannte. Alle lachen den Stotterer aus. Und er würde sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen. Er schämt sich so, dass er die Worte nicht herausbringen kann wie andere Leute.

 

Seine Geschwister lachen nicht über ihn. Seine Eltern auch nicht. Sie lieben ihn und ermutigen ihn. „Wir glauben an dich, Joe“, sagen sie. „Du schaffst das!“ „Eines Tages wirst du besser reden als alle anderen!“ Sie machen sich schlau über alles, was einem Stotterer helfen kann. Rhythmus kann helfen und Reime. Sie geben ihm Kinderreime auf, Lieder und Gedichte. Er lernt vieles auswendig. Vor dem Spiegel übt er, die Verse aufzusagen. Denn beim Stottern verzerrt sich sein Gesicht. Es sieht so erbärmlich aus. Er kann es fast nicht aushalten, sich im Spiegel zu sehen. Aber er bleibt dran. Er will es schaffen. „Du bist nicht hässlich“, Joe, sagt seine Mutter. „Du bist großartig. Ich bewundere dich. Ich liebe dich.“ Wenn sie ihn beim Üben beobachtet, feuert sie ihn an. „Gut gemacht, Joe!“.

 

Einen Satz zu sagen, den er auswendig gelernt hat, ist viel einfacher als spontan etwas zu sagen. Er findet heraus, dass es gut ist, wenn er sich ganz genau vorher überlegt, was er sagen will. Er muss es ein paarmal vor sich hinsprechen, solange niemand zuhört. Als Jugendlicher trägt er Zeitungen aus. Einmal im Monat muss er bei den Kunden klingeln und kassieren. Welch ein Horror! Auf dem Weg zum Kunden spricht er sich die Sätze vor, die er sagen will. Es ist schwierig. Aber es ist eine gute Gelegenheit zum Üben.

Joe ist ein Kämpfer. Er gibt nicht auf. Er wird stark und immer stärker. Er ist ein sehr guter Sportler. Das hilft ihm. Und er ist ein kluger Kopf. Er beginnt ein Studium. Er erobert sich die Anerkennung von Mitstudenten und Professoren.

 

Wenn er müde ist, kommt das Stottern wieder zurück. Wenn er aufgeregt ist, kommt es auch zurück. Das Schwierigste ist es, ein Mädchen anzusprechen. Nichts schwieriger als das. Wi-wi-willst du mi-mit mir ins Ki-ki-no? An den Reaktionen merkt er sofort, welches Mädchen Charakter und Anstand im Leibe hat. Das ist der Vorteil des Stotterers. Er hat ein feines Gefühl für die Menschen. Er spürt, was in ihnen vorgeht. Er kann sich sehr gut einfühlen. Und er hat ein starkes Mitgefühl für andere, deren Leben auch nicht einfach ist. Niemals würde er sich lustig machen über jemanden, der am Rande steht. Er lernt dem Primitiven und Gemeinen standzuhalten. Er weiß um seinen Wert und seine Würde.

 

Von wem erzähle ich hier? Joe Biden! Vor kurzem wurde er als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Sein Vorgänger hat es ihm unglaublich schwer gemacht. Mit Lügenkampagnen und dem Versuch eines Staatsstreiches hat er bis zuletzt versucht, diese Amtseinsetzung zu verhindern. Er war nicht bereit, den Platz zu räumen. Joe Biden hat es mit Anstand getragen. Er war vorbereitet. Sein ganzes Leben hat ihn darauf vorbereitet. In einer bewegenden Ansprache im Jahr 2016 vor einer Selbsthilfevereinigung von Stotterern und ehemaligen Stotterern sagte er: „Wer gelernt hat, das Stottern zu überwinden, den kann nichts anderes mehr erschüttern.“

 

Standhaftigkeit ist eine Tugend, die ich sehr bewundere. Ich lasse mich leicht beirren durch Ablehnung und Abschätzigkeit. Es ist für mich sehr schwierig, Ablehnung auszuhalten. Für Sie auch? Für euch auch?

Niemand mag es, abgelehnt zu werden. Niemand mag es, ungerecht behandelt zu werden. Die Welt könnte viel schöner sein ohne das. Und dennoch: Es ist notwendig, dieser Realität ins Auge zu sehen. Wenn jemand uns ablehnt, hat das meistens mehr mit ihm zu tun als mit uns. Nehmen wir es nicht persönlich! Stellen wir unseren eigenen Selbstwert nicht in Frage, wenn jemand anderes uns dumm kommt. Lernen wir, standhaft zu sein!

 

Bäume sind für mich Lehrmeister in Standhaftigkeit. Bäume können nicht weglaufen und sich bessere Bedingungen suchen. An einer ganz bestimmten Stelle haben sie Wurzeln geschlagen. Mit ganz bestimmten Widrigkeiten haben sie zu tun, von Anfang an. Sie sehen hier das Bild einer alten Eiche. Sie steht in einem felsigen Gebiet oberhalb von Baden-Baden. Sie hat viele Stürme überstanden. Sie hat Dürrejahre erlebt und eisigen Frost. Sie hat standgehalten. Untersuchungen haben gezeigt, dass sie schon mehr als 600 Jahre alt ist. Ihr größter Ast ist inzwischen hohl. Passanten werden gewarnt, in der Nähe zu stehen oder zu gehen. Der Ast könnte jederzeit brechen. Die Eiche wird dennoch weiterwachsen. In jedem Frühling treibt sie frisches Grün. Sie macht sich nichts daraus, dass die Treppenstufen über ihr Wurzelwerk führen. Sie lässt es geschehen, dass Menschen hinauf – und hinuntersteigen. Ihre Kraft kommt aus der Tiefe. Sie strahlt Würde aus. Ich sehe, dass sie sich bewährt hat. Sie ist ein Charakterbaum, ganz einzigartig. Ich sehe in ihr etwas wahrhaft Königliches. Sie hat viele Verwundungen davongetragen. Sie hat eine gewisse Herbheit. Diese gehört zu ihrer Würde. Sie mindert ihren Wert nicht, ganz im Gegenteil.

 

Lernen wir von den Bäumen und von vorbildlichen Menschen. Lernen wir Standhaftigkeit.

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche!

Gabriele Koenigs

 

 

P.S: Dieses Bild und diese Geschichte werden in meinem neuen Buch enthalten sein. Es wird voraussichtlich am 15. Juni 2021 erscheinen. Der Titel wird heißen: Alles wird gut. 

 


Joe Biden hat im Jahr 2016 eine eindrucksvolle Rede gehalten. Es war bei einem Kongress von Stotterern und ehemaligen Stotterern. Aufgrund seiner Rede habe ich diese Geschichte geschrieben. Wer die Rede anschauen möchte, findet sie - sogar mit deutschen Untertiteln - hier


Von Pete Seeger stammt das eindrucksvolle Lied: We shall not be moved, das heißt: Wir halten stand!!!!!!! Wie ein Baum, der am Wasser steht...  Als er es gesungen hat, war Joe Biden 20 Jahre alt. 

Hier können Sie es hören. 

 

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