Überall gibt es etwas zu lernen

Schulanfängerin. Aquarell von Gabriele Koenigs (2013). Auftragsportrait. Privatbesitz
Schulanfängerin. Aquarell von Gabriele Koenigs (2013). Auftragsportrait. Privatbesitz

Karoline und Linde haben sich zu einem großen Kongress in Amerika angemeldet. Sie sind Freundinnen. Zusammen haben sie ein Unternehmen gegründet. Sie sind auf der Suche nach guten Ideen für Marketing. Schließlich wollen sie sich und ihre Angebote bekanntmachen und Kunden gewinnen. Die Ausschreibung des Kongresses klang vielversprechend. Mit großen Erwartungen treten sie die Reise an. Der Kongress soll vier Tage dauern. Sie wollen dort so viel wie möglich lernen.

 

Viele Menschen stehen im Foyer des Tagungszentrums. Die Türen des Konferenzsaals sind noch geschlossen. Karoline und Linde schauen sich um. Es sieht so aus, als seien hier wirklich interessante Leute. Sie sind freundlich. Ein großes Hallo ist im Gange. Alle sind voller Erwartung.

 

Endlich werden die Türen geöffnet. Die Menschen strömen hinein. Vorne ist eine Bühne, gut beleuchtet. An allen Seiten des Raumes sind Messestände aufgebaut. Die Zuhörer sitzen in langen Reihen vor der Bühne. Die Sitze sind miteinander verbunden wie in einem Kino. Fast alle Sitze werden belegt. Karoline und Linde finden Plätze im Zentrum einer Reihe, mit guter Sicht auf die Bühne. Das Programm beginnt.

 

In schneller Folge werden auf der Bühne Angebote präsentiert. Jede Rednerin und jeder Redner hat höchstens 10 Minuten, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Fast alle haben sich Gags überlegt. Jeder möchte seine Programme verkaufen. Beim Auftritt des dritten Redners seufzt Karoline: „Das ist ja schlimmer als eine Kaffeefahrt! Jeder will sein Zeug verkaufen. Dabei wollen wir hier doch etwas lernen! Am liebsten würde ich wieder gehen!“ Linde sagt: „Wart noch ein bisschen, wenigstens bis zur nächsten Pause. Vielleicht kommt noch etwas Interessantes.“

 

Die Redner auf der Bühne versprechen dem Publikum das Blaue vom Himmel. Innerhalb von 6 Monaten könnten die Unternehmen sechsstellige Beträge erwirtschaften. Schulungsteilnehmer könnten lernen, einen Raum zu betreten und sofort die Aufmerksamkeit des gesamten Publikums zu gewinnen - einfach nur durch ihre Körpersprache.. Sie könnten lernen, Webinare zu veranstalten, bei denen sich Tausende anmelden. Sie könnten lernen, Slogans zu bilden, die ebenso einprägsam sind wie „Haribo macht Kinder froh.“ Alles käme nur auf die richtige Schulung an. An den Messeständen liegen die Prospekte für die Angebote aus. Dort kann man seine Fragen loswerden und sich zu den Angeboten anmelden – vorausgesetzt, dass man gleich mit der Kreditkarte eine Anzahlung leistet.

 

Nach einigen Reden erlahmt die Aufmerksamkeit des Publikums. Da betritt ein feuriger Redner die Bühne. Er wedelt mit 3 Hundert-Dollar-Scheinen herum und ezählt: „Vor kurzem war ich bei einem anderen Kongress. Ich habe dort angeboten: :Wer möchte, bekommt 300 Dollar von mir. Einzige Voraussetzung: Schnell sein! Nur der erste bekommt sie.‘ Niemand meldete sich. Offensichtlich hat mir niemand geglaubt. Oder die Leute haben sich einfach nicht getraut. Ich habe nochmals gefragt, ob wirklich niemand meine dreihundert Dollar haben möchte. Schließlich meldete sich eine einzige Frau. Ich rief sie zu mir und übergab ihr das Geld. Sie strahlte. Die anderen zogen lange Gesichter. Heute habe ich nochmals so ein Angebot für Sie. Die ersten zehn, die sich zu meinem Schulungsprogramm anmelden, bekommen 300 Dollar Rabatt. Aber nur die ersten. Ich gehe jetzt zu meinem Messestand. Seid schnell. Nur die ersten zehn Leute bekommen den Rabatt". Er springt mit einem großen Satz von der Bühne und geht raschen Schrittes zu seinem Messestand. Überall stehen Leute auf und rennen ihm nach.

„Ich glaube, wir sind hier im falschen Film“, sagt Linde. „Mir reicht es jetzt wirklich. Das ist doch Leuteverdummung“. „Und dafür haben wir unsere Kongressgebühr bezahlt, wie ärgerlich“, antwortet Karoline.

 

Gehen ist nicht so einfach. Karoline und Linde sitzen in der Mitte einer Reihe. „Wir müssten die anderen bitten, uns herauszulassen“, sagt Karoline. „Es wird einige Unruhe geben, wenn alle in unserer Reihe für uns aufstehen müssen. Eigentlich mag ich das gar nicht. Sollen wir nicht doch lieber bis zur Pause warten?“ „Ich habe schon Magenschmerzen, sagt Linde. Ich halte es hier nicht nochmals eine Stunde aus. Komm, wir gehen trotzdem!“

Höflich bitten sie einen nach dem anderen, sie herauszulassen. Endlich sind sie draußen. Vor der Tür nehmen sie einander in die Arme. „Meine Güte, war das ein Affentheater dort drinnen! Ein Glück, dass wir draußen sind!“

 

Plötzlich bemerkt Linde, dass sie ihre Thermosflasche drinnen im Raum vergessen hat. Ausgerechnet ihre Lieblingsthermosflasche! Ihr Mann hatte ihr diese zum Geburtstag geschenkt. Was nun? Karoline sagt: „Warte, ich hol sie dir!“

 

Karoline geht wieder zu der Reihe zurück, in der sie beide gesessen hatten. Sie bittet die anderen Leute, noch einmal aufzustehen. „Entschuldigen Sie bitte! Meine Freundin hat etwas Wichtiges hier vergessen!“ Sie ist es nicht gewohnt, so einen Aufstand zu veranstalten. Es kostet sie sehr viel Überwindung. Aber für ihre Freundin tut sie es. Sie bittet höflich. Alle stehen auf und lassen sie durch. Tatsächlich findet sie die Flasche unter dem Sitz, auf dem Linde gesessen hat. Sie nimmt sie an sich und geht wieder zurück. Noch einmal müssen alle für sie aufstehen. „Was die jetzt wohl über uns denken“, schießt es ihr durch den Kopf. „Wahrscheinlich denken sie, dass wir ganz durchgedrehte Weiber sind!“ Aber es gibt kein Zurück. Endlich ist sie wieder draußen. Lachend überreicht sie ihrer Freundin die heißgeliebte Thermosflasche.

 

Die beiden lachen heute noch, wenn sie an diese Geschichte denken. Manchmal erzählen sie anderen sogar davon. So ist diese Geschichte auch mir zu Ohren gekommen.

 

"Wir haben vieles dort gelernt! Es war nicht das, was wir erwartet hatten und wofür wir unser Geld bezahlt haben. Aber wir haben gelernt: Du kannst aufstehen und gehen, wenn du irgendwo fehl am Platz bist. Du brauchst nicht einmal bis zur Pause warten. Wenn alles in dir rebelliert, geh! Deine Zeit ist viel zu kostbar, um etwas über dich ergehen zu lassen, das gegen alle deine inneren Werte steht! Und: Lass dich nicht davon lähmen, was andere über dich denken. Du brauchst dich nicht vor ihnen zu rechtfertigen".

Überall kannst du etwas lernen“, sagen die beiden. "Sei offen dafür. Sei bereit.

Wer weiß, was du heute lernen kannst?"

 

Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche.

Gabriele Koenigs


Hier singt Mahalia Jackson das Gospel: "He's got the whole world in his hands" (übersetzt: Er hält die ganze Welt in seiner Hand). 

 

Viel Freude beim Hören und Schauen und Singen! 

 

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