Ich bin auf der griechischen Insel Patmos. Ich sitze auf meiner Terrasse. Es ist früh am Morgen. Bald wird die Sonne aufgehen. Schon ist ein bisschen Morgenrot da. Es ist angenehm warm. Der Wind hat die Mosquitos vertrieben. Ich sitze und schaue. Und ich lausche. Unaufhörlich plätschern die Wellen. Ab und zu schreit eine Möwe. Die Blätter der Bäume und Büsche rascheln. Feigen und Trauben reifen still heran. Die Luft duftet nach Rosmarin. Niemand will jetzt etwas von mir. Niemand braucht mich jetzt. Ab und zu nehme ich meinen Fotoapparat zur Hand und mache eine Aufnahme. Aber jedes Mal bin ich enttäuscht. Die Farben sind in Wirklichkeit so viel schöner und delikater als auf dem Foto. Ich lege den Fotoapparat wieder weg. Es gilt jetzt, mit dem Herzen zu sehen.
Nun steigt der Sonnenball über dem Meer auf. In den ersten Momenten liegt noch ein Wolkenschleier davor. Aber sowie er ein bisschen höher steigt als die Wolken, ist er ganz klar zu sehen. Kreisrund, leuchtend. Unaufhörlich steigt er und zieht seine Bahn. Je höher er steigt, desto weniger ist eine Abgrenzung zum umgebenden Himmelszelt zu sehen. Die Grenzen verschwimmen. Nun leuchtet die Sonne so grell gleissend, dass ich gar nicht länger dorthin schauen kann. Aber das Sonnenlicht spiegelt sich jetzt im Wasser. Diese Spiegelung ist eine Freude für die Augen. Das Wasser leuchtet türkis. Unendlich viele blendend weiße Schaumkronen zeigen sich auf den Wellen. Das Muster verwandelt sich unaufhörlich. Ich schaue und staune.
Ist es Zeitverschwendung, einfach nur zu lauschen und zu schauen? Ganz und gar nicht! In mir entsteht eine Ahnung von Ewigkeit. Die Zeiten fallen zusammen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alles ist eins in diesem heiligen Augenbiick. Das Wollen und Müssen und Planen erlischt. Ich bin. Und Gott ist. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Unsterblich. Gewaltig. Liebend. Größer als alles.
Ein Lobgesang steigt in mir auf. Ich singe ihn in griechisch, der Sprache der orthodoxen Schwestern und Brüder. "Agios O Theos, agios ischiros, agios athanatos, elesison imas." Ich kenne ihn auch auf deutsch. "Heiliger Gott. Heiliger starker Gott. Heiliger unsterblicher Gott. Erbarm dich über uns." In griechisch klingt es majestätischer, darum singe ich griechisch. So viel Anbetung liegt in diesem Lied. Sonne, Wind und Meer haben diese Anbetung in mir erweckt. Sie wird immer wieder aufsteigen, so lange ich lebe. Ich werde Gott loben, so lange ich lebe.
Kinder haben diese Fähigkeit zum Staunen und Schauen in sich, von Anfang an. Sie können sich verlieren im Schauen und Staunen. Sie können die Zeit völlig vergessen. Damit können sie Erwachsene anstecken. Oder sie können zum Bewusstsein bringen, wie eng das Zeitkorsett ist, in dem wir Erwachsene normalerweise leben. Alles soll schnell gehen und auf Termin fertig sein. Die armen Kinder müssen sich hineinfügen, ob sie wollen oder nicht. Umso kostbarer sind Tage ohne Programm. Ferientage. Feiertage. Sonntage. Sie sind zum Durchatmen da, zum Schauen und Staunen, und zur Anbetung. Gönnen wir einander solche Zeit, so oft wie irgend möglich, und gönnen wir sie uns selbst.
Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche
Gabriele Koenigs
Hier können Sie den Lobgesang in griechischer Sprache hören, gesungen von Mitgliedern der Findhorngemeinschaft. Viel Freude dabei! Im Grunde kann man sogar leicht mitsingen oder summen!
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