
Ein interessanter Mensch wurde in einem Interview gefragt, welches seine Lieblingsjahreszeit sei. Er überlegte ein Weilchen und sagte dann: "Der Herbst". "Die Temperaturen sind mild. Der Herbst dauert lang. Und er ist nicht mit so hohen Erwartungen überfrachtet wie der Sommer."
Seine Sätze wirken in mir nach. Für mich ist der Herbst eigentlich eher eine schwierige Jahreszeit. Jedes Jahr fällt es mir schwer, mich darauf einzustellen, dass die Tage kürzer werden und dass es kühler wird. Eine Melancholie liegt über den Herbsttagen, die mir manchmal gar nicht bekommt. Dennoch: Ich habe über seine Sätze nachgedacht. Und ich habe gemerkt, dass viel Wahres darinnen liegt.
Der Sommer ist mit hohen Erwartungen überfrachtet. Er soll schön warm sein, aber nicht zu heiß. Es soll wenig regnen, aber das Land soll trotzdem nicht dürr werden. Am besten, wenn es nur nachts regnet. Der Regen soll sanft kommen, nicht heftig. Das Wasser in den Seen und im Meer soll schön warm sein. Aber nicht so warm, dass die Algen und die Quallen überhand nehmen. So wünschen sich die meisten Leute ihren Sommer. Und sie suchen ein Plätzchen für die Sommerferien, wo es sich gut anfühlt zu sein. Selbst wenn es Hunderte oder Tausende Kilometer von zuhause entfernt ist. Die Enttäuschung ist groß, wenn es dann doch nicht ist wie gewünscht. Oder wenn die Reise viel teurer war als gedacht. Oder wenn viel zu viele Menschen die gleiche Idee hatten und alles überfüllt war. Je höher die Erwartungen, desto größer fällt die Enttäuschung aus.
Der Herbst dagegen ist wechselhaft. Das wissen wir alle. Schöne Spätsommertage gehören dazu. Und es gibt auch Dauerregen, Stürme, Nebel, Wind und Kälte. Das war schon immer so. Wir stellen uns darauf ein. Wir nehmen es an. Und wir freuen uns an schönen Tagen, an dem bunten Laub, an den Äpfeln und Birnen und Zwetschgen und Trauben und dem leuchtenden Blumenschmuck in den Gärten. Wenn es draußen ungemütlich ist, verkriechen wir uns im Haus. Auch dort gibt es genug zu tun. Die längeren Abende geben Gelegenheit zum Lesen und Spielen und Handarbeiten.
Ich freunde mich mit dem Herbst an, ganz allmählich. Darum male ich jetzt Bilder vom Herbst. Ich zeige seine Schönheit, mir selbst und anderen.
Zu hohe Erwartungen bringen Ungutes mit sich. Das gilt nicht nur im Verhältnis zu den Jahreszeiten, sondern auch im Verhältnis zu anderen Menschen und zum eigenen Leben. Zu hohe Erwartungen bringen meistens Enttäuschungen hervor. Wie wäre es, wenn wir uns darin üben würden, sie loszulassen, peu a peu? Solches Loslassen bringt Freiheit mit sich. Es ist die Freiheit, das Leben anzunehmen, so wie es wirklich ist. Die anderen anzunehmen, wie sie sind, und auch sich selbst. Das Leben annehmen mit all seinen Unvollkommenheiten und Rätseln.
Das ist eine wirkliche Lebensaufgabe. Ich habe sie noch lange nicht gemeistert. Aber ich bin dran. Ich erinnere mich immer wieder daran. Und manchmal erinnert mich ein anderer Mensch daran, so wie dieser interessante Mensch in dem Interview. Und ich denke: "Oh ja, das ist wahr!"
Herzliche Grüße
Gabriele Koenigs
P.S: Nächsten Sonntag werde ich mehr von dem interessanten Mensch erzählen. Ich bin dran, mich in sein Leben zu vertiefen, und bin sehr fasziniert. Sie können sich schon darauf freuen.
Hier finden Sie das Volkslied "Bunt sind schon die Wälder" in einer Vertonung von Schubert, gesungen von Dietrich Fischer-Diskau. Viel Freude beim Anhören!
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