
Michael Marpurgo war Grundschullehrer. Er unterrichtete in einer Großstadt in England. Er hatte viele gute Ideen beim Unterrichten. Er tat alles, um die Kinder zu fördern. Die Kinder waren gerne in seinem Unterricht. Am Ende jedes Unterrichtstages erzählte er eine Geschichte. Das war der Höhepunkt des Tages für alle. Anfangs hatte er Geschichten aus Büchern vorgelesen. Eines Tages ging er dazu über, Geschichten zu erzählen, die er selbst erfunden hatte. Die Kinder hingen an seinen Lippen. Dies waren die glücklichsten Momente für Michael. Hier war er ganz er selbst: ein begnadeter Geschichtenerzähler.
„In der Schule werden die Kinder mit Lernstoff gefüttert. Aber was nützt ihnen das für ihr Leben?“ So fragte er sich selbst. Und er spürte, dass er nicht für immer Lehrer bleiben wollte. Er passte nicht in den Schulbetrieb. Er wollte den Kindern etwas Wichtigeres und Wesentlicheres geben.
Eines Tages war er in den Sommerferien mit seiner Frau Clare in Frankreich unterwegs. Sie kamen durch einen Ort, in dem es ein großes Feriencamp für Schulkinder gab. Er erkundigte sich, was die Kinder mit ihren Betreuern dort tun. Angeln, Schwimmen, Nachtwanderungen, auf Bäume klettern, Lagerfeuer entzünden. Er war begeistert. Clare war es auch. „Das gibt den Kindern etwas Bleibendes für ihr Leben!“
„Etwas in diese Richtung will ich auch machen“, sagte Michael. „Zusammen mit dir, Clare!“ „Etwas außerhalb der Schule, in der Natur. Den Kindern ganz andere und neue Erfahrungen ermöglichen!“ „Vor allem dieses: Die Kinder sollen merken, dass sie etwas können, und dass sie wichtig sind!“ Von nun an kamen ganz viele Ideen auf. Sie redeten miteinander, und sie redeten auch mit ihren Freunden. Ideen wurden durchdacht und wieder verworfen. Schließlich kristallisierte sich eine Idee immer mehr heraus. „Wir wollen den Kindern ermöglichen, eine Woche auf einem Bauernhof mitzuhelfen und den guten Umgang mit den Tieren und der Erde zu erlernen. Besonders für die Stadtkinder ist dies wichtig!“
Es war eine ziemlich verrückte Idee. Vor allem, weil sie selbst nichts von der Landwirtschaft verstanden. Sie waren selbst als Stadtkinder aufgewachsen. Clares Vater hatte einen großen Verlag geleitet. Michaels Mutter war Schauspielerin.
Die beiden waren jung, und sie hatten schon 2 Kinder. Clares Vater war ein vermögender Mann gewesen. Nach seinem Tod hatte Clare einiges geerbt. Sie hatten aus dem Vermögen ein kleines Haus gekauft, und sie hatten ein paar Tiere für die Kinder. Sie wussten, wie sehr ihre Kinder die Tiere liebten. Darum wussten sie bald: „Dort, wo die Stadtkinder hinkommen, muss es viele Tiere geben! Und: Wir können das nicht alleine aufziehen. Wir brauchen einen Bauern, am besten mit Familie, der dies Projekt mit uns macht.“
Eines Tages rief ein Verwandter an, der mit Immobilien handelte: „In Iddlesleigh gibt es ein verlassenes Anwesen, das günstig zum Verkauf steht!“ Als er den Namen des Ortes nannte, war Clare wie elektrisiert. Sie war als Kind oft in diesen Ort gekommen, weil dort Freunde ihrer Eltern lebten. Es war ihr Ferienparadies. Es wohnten nicht einmal 100 Leute in diesem kleinen Dorf. Dort hinzuziehen, mit ihrer Familie, und etwas Neues aufzubauen? Nichts könnte besser sein als das! Sie besichtigten das Haus und verliebten sich sofort. Sie entschieden sich, das Haus zu kaufen. Es war sehr renovierungsbedürftig. Sie beauftragten Handwerker mit den nötigen Arbeiten.
Als sie eines Tages mal wieder dort waren, um nach dem Baufortschritt zu sehen, fuhren sie mit dem Auto in einen Graben. Ein Bauer kam mit seinem Traktor und half ihnen aus der Klemme. Sie waren ihm sehr dankbar, und sie mochten sich gegenseitig auf Anhieb. Sie lernten sich einander näher kennen. Schließlich kam die überraschende Einladung: „Ihr könntet bei uns auf dem Bauernhof wohnen und mitarbeiten, bis euer Haus fertig ist!“ Das klang nun wie ein Märchen. Konnte das wirklich wahr sein? Michael glaubt an so etwas wie göttliche Führung. Dankbar nahm er das Angebot an. Er kündigte seine Stelle in der Schule und zog auf den Bauernhof. Nun ging er in die Lehre bei dem Bauern. Er ging ihm bei allen Arbeiten zur Hand. Melken, mähen, dreschen, Hühner versorgen, Holz hacken. Diese körperliche Arbeit war für ihn völlig ungewohnt. Aber er liebte sie, vom ersten Tag an, und strengte sich an. Nach 6 Monaten war er so weit, dass die Bauernfamilie ihm alle Arbeiten außer das Traktorfahren anvertrauen konnte. Und es hatte sich eine schöne Freundschaft zwischen den Familien entwickelt.
Als das Haus fertig war, zog seine Familie ein. Bald danach stand ein großes Herrenhaus zum Verkauf, ganz in der Nähe. Es hieß „Nethercott House“. Michael und Clare jubelten. „Hier könnten wir die Kinder unterbringen! „Hier könnten wir Schlafräume einrichten und einen großen, gemütlichen Aufenthaltsraum!“ Sie kauften auch dieses Haus und fingen an, es für die Kindergruppen herzurichten.
Im Jahr 1976 kommt der große Moment: 26 Kinder aus einem Stadtviertel in London reisen mit ihrer Lehrerin an. Es ist ein Stadtviertel mit viel Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Kriminalität. Die meisten Kinder kennen keinen regelmäßigen Tagesrhythmus. Aber hier, in ihrer Woche auf dem Bauernhof, gibt es klare Regeln für alles. Wecken um 6.30 Uhr, Antritt zur Arbeit um 7 Uhr. Zuerst werden die Tiere gefüttert. Kühe, Schafe, Ziegen, Pferde, Hühner. Die Ställe werden gemistet. Jedes Kind hat seine Aufgabe. Um 9 Uhr gibt es ein gutes Frühstück. Danach geht die Arbeit weiter. Eine Kindergruppe hilft in der Küche, weitere Gruppen auf den Feldern und im Gemüsegarten. Die Kinder arbeiten zusammen mit den Erwachsenen mindestens 5 Stunden täglich. Es gibt drei gute, herzhafte Mahlzeiten und Zeit zum Spielen. Abends nach getaner Arbeit sitzen alle beisammen und erzählen, was ihnen heute wichtig war. Und Michael erzählt seine Geschichten. An einem Abend ruft der Bauer an: „Schnell, kommt, ein Kälbchen wird geboren!“ Im Nu machen sich alle auf den Weg und setzen sich in den Stall. Andächtig und mucksmäuschenstill beobachten sie die Geburt des Kälbchens. Am letzten Abend der Woche gibt es eine große Abschiedsparty. Beim Abschied fließen viele Tränen. Die meisten Kinder würden viel lieber hier bleiben, hier bei den Tieren, anstatt in ihr verwahrlostes Stadtviertel zurückzukehren.
Seit diesem Beginn im Jahr 1976 besteht die Stifung „farms for city children“ (Bauernhöfe für Stadtkinder). Es sind drei weitere Bauernhöfe in England dazugekommen, und einer in Amerika. Sie bekommen Zuschüsse von staatlichen Stellen und von privaten Förderern. Es sind inzwischen mehr als 100 000 Kinder mit ihren Lehrern zu Gast gewesen. Manche Lehrerinnen und Lehrer kommen immer wieder, immer wieder mit neuen Klassen. Sie haben gesehen, welche gute Auswirkungen auf die Kinder langfristig zu bemerken sind.
Eine Lehrerin hatte ein Flüchtlingskind aus Vietnam in ihrer Klasse. Im Lauf der Zeit konnte es englisch verstehen und schreiben, aber es sprach niemals, kein einziges Wort. Niemand wusste, was diesem Kind zugestoßen war. Man wusste nur, dass der Rest seiner Familie auf dem Boot gestorben ist, mit dem sie auf der Flucht waren. Gutherzige Menschen in England hatten das Kind adoptiert. Aber auch sie konnten das Kind nicht zum Sprechen bringen. Niemand wusste, ob das Kind überhaupt sprechen kann. Während der Woche auf dem Bauernhof lebte das Kind auf. Es ging mit den Tieren so selbstverständlich um, als hätte es solche Arbeiten schon immer gemacht. Und immer wieder ging es zu einem bestimmten Pferd in den Stall. Eines Abends bemerkte die Lehrerin Licht im Stall. Sie entdeckte den kleinen Jungen. Er flüsterte dem Pferd ins Ohr. Er erzählte dem Pferd, was er erlebt hatte. Er konnte also sprechen! Das Pferd hörte ihm geduldig zu. Nun war der Bann gebrochen. Auf der Heimfahrt von der Woche auf dem Bauernhof fing das Kind an, mit seiner Lehrerin und den anderen Kindern zu sprechen.
Michael hat eine Geschichte über diese wunderbare Verwandlung eines stummen Jungen geschrieben. Und er hat viele, viele weitere Geschichten geschrieben. Er ist ein erfolgreicher Kinderbuchautor geworden. Oft kamen die Anstöße zu seinen Geschichten aus Begebenheiten mit den Stadtkindern oder aus dem, was er im Dorf zu hören bekam. Inzwischen ist er 83 Jahre alt. Er hat mehr als 120 Kinderbücher veröffentlicht. Mit der Stiftung „farms for city children“ ist er immer noch freundschaftlich verbunden. Aber er hat sie in jüngere Hände gelegt. Sie arbeitet erfolgreich weiter. Und Michael schreibt. Noch gehen ihm die Ideen nicht aus.
Wenn er auf sein Leben zurückschaut, kann er einfach nur staunen, wie sich alles zusammengefügt hat. Und ich staune auch. Wie faszinierend, wenn jemand seine Berufung findet! Wie geheimnisvoll und weise werden wir geführt, Schritt für Schritt! Mitten im Wirrwarr des Lebens entsteht Klarheit, immer wieder. Welch ein Geschenk!
Herzliche Grüße,
und alles Liebe und Gute für Sie und für euch!
Gabriele Koenigs
Hier können Sie in einem Video ein paar Eindrücke aus dem Leben der Stadtkinder auf dem Bauernhof sehen. Viel Freude dabei!
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Und hier kommt ein einfaches, mitreißendes Loblied zum Mitsingen. Es geht ganz einfach. Sie finden es im evangelischen Gesangbuch und im Gotteslob. "Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen...". Viel Freude dabei!
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Gudrun (Sonntag, 21 September 2025 08:46)
So eine spannende Lebensgeschichte! Am liebsten würde ich auch gleich auf diesen Bauernhof fahren und mich im Stall tummeln! Und noch vieles lernen, was ich als Städter nicht kenne. Vielen Dank für deine heutige Ermutigung, liebe Gabriele. Zum Lernen ist man nie zu alt!! Ein solcher Ansporn!