Eine Geschichte wird geboren

Blühendes Leben. Aquarell von Gabriele Koenigs (2025). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 50 cm x 50 cm. Als Original erhältlich
Blühendes Leben. Aquarell von Gabriele Koenigs (2025). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 50 cm x 50 cm. Als Original erhältlich

Michael Morpurgo war mit seiner Familie in ein winziges Dorf in England gezogen. Dort verwirklichten sie ihren großen Traum. Sie schufen die Möglichkeit, dass Stadtkinder für eine Woche im Schuljahr das Leben auf dem Land kennenlernen und auf einem Bauernhof mitarbeiten konnten. Jede Woche hatten sie 25 - 40 Kinder mit ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer zu Gast . Diese Arbeit beglückte sie und erfüllte sie ganz. Vorigen Sonntag habe ich schon davon erzählt. Sie können es hier nachlesen. 

 

In den Schulferien kamen keine Schulklassen. Es war eine ruhigere Zeit für Michael und seine Frau Clare. Sie hatten mehr Zeit für ihre eigenen Kinder und für den Kontakt mit Dorfbewohnern. Eines Abends war Michael in der Dorfkneipe. Ein alter Mann saß dort. Sie kamen ins Gespräch. Michael hatte schon gehört, dass dieser Mann in seiner Jugend am 1. Weltkrieg teilgenommen hatte. Er fragte ihn danach. Zunächst kam nur eine einsilbige Antwort. "Ja, ich war im Krieg". Er machte nicht den Anschein, als wollte er mehr darüber sagen. Die Leute in dieser Gegend sind ziemlich wortkarg. Aber Michael mit seinem großen Interesse an Menschen und ihren Geschichten schaffte es, ihn zum Reden zu bringen. 

 

"Ich war 17 Jahre alt, als ich eingezogen wurde", sagte der alte Mann. "Ich bin mit meinen Pferden mitgegangen." Nun war der Damm gebrochen. Der alte Mann erzählte und erzählte. "Ich habe daheim noch ein paar Fotos aus dieser Zeit", sagte er. Sie gingen zu ihm  nachhause. Er zeigte ihm die Fotos von seinen Kriegskameraden und von den Pferden. Die Armee hatte bei den Bauern Pferde gekauft. Die Pferde waren für die Arbeit auf den Feldern ausgebildet, nicht für den Kampf. Aber nun wurden sie im Krieg eingesetzt. Der junge Mann musste die Soldatenausbildung machen und dann an die Front. Er erzählte von den Grausamkeiten, die er erlebt hatte, zusammen mit den Pferden. "Ein Glück, dass sie bei mir waren", sagte er. "Ihnen konnte ich von meiner Angst erzählen, von Heimweh und Schrecken und Traurigkeit. Dass sie bei mir waren, gab mir Halt. Sie waren meine besten Freunde".

 

Michael hörte ihm zu, ganz fasziniert. Irgendwann setzte sich auch die Frau des alten Mannes mit dazu. Später sagte sie ihm einmal: "Er hat uns noch nie so viel von dieser Zeit erzählt! Er hat das alles in sich verschlossen! Aber es ist gut, dass wir nun mehr wissen. Der Arme, was hat er als junger Mensch durchgemacht!" 

 

Nach dem Gespräch fing Michael an zu recherchieren. Er erfuhr, dass im 1. Weltkrieg beinahe genauso viel Pferde gestorben sind wie Soldaten. Sie starben durch Maschinengewehre und Panzer, durch Krankheiten, durch Hunger und Depression - genau wie die Menschen. Sie wurden gefangengenommen, genau wie die Menschen. Und nun kam seine Idee: "Ich werde aus der Sicht eines Pferdes vom Krieg erzählen. Und es soll zugleich eine Geschichte von Freundschaft und Versöhnung sein."  

 

Michael begann zu schreiben. Er erzählte von einem Pferd, das eigentlich zu einem  Bauernhof gehörte. Er gab ihm den Namen "Joey". Albert, der Sohn der Bauersfamilie, war sein bester Freund und Gefährte. Er brachte ihm bei, den Pflug über die Felder zu ziehen, Holz aus dem Wald zu holen und was sonst noch an Arbeiten auf dem Hof anfiel. Er versprach ihm: "Joey, mein Freund, du wirst immer bei uns bleiben, und ich werde immer für dich sorgen!" Aber eines Tages verkaufte sein Vater das Pferd an die Armee. Albert war untröstlich. Am liebsten wäre er mit dem Pferd in den Krieg gezogen. Aber er war erst 16 Jahre alt - zu jung, um Soldat zu  werden. Der Offizier, der es gekauft hatte, versprach ihm, auf das Pferd gut aufzupassen. Und er sagte: "Wenn du alt genug bist, um Soldat zu werden, kommst du auch und suchst nach Joey! Frage nach mir, dann wirst du deinen Freund wiederfinden!" 

 

Joey zog in den Kampf. Zuerst war er voller Enthusiasmus und Abenteuerlust, genau wie die jungen Soldaten. Aber dann sah er den Schrecken, die Verletzten und die Toten. Er verstand, wie grausam Krieg ist. Er gab sein Bestes, war mutig und tapfer. Oft dachte er an das friedliche Leben auf dem Bauernhof zurück, und an seinen Freund Albert. Er vermisste ihn jeden Tag. Eines Tages wurde der Offizier getötet. Joey war unverletzt, aber er kam in deutsche Gefangenschaft. Nun musste er den deutschen Soldaten dienen. Ein zweites Pferd wurde mit ihm gefangen. Sie wurden Kameraden und Freunde. Sie bekamen die Aufgabe, verwundete Soldaten vom Schlachtfeld abzutransportieren und in das Lazarett zu bringen. Die deutschen Soldaten gingen gut mit den beiden Pferden um. Sie waren dankbar für ihren treuen Dienst an den Verwundeten. Als sie den Rückzug antraten, brauchten sie die Pferde nicht mehr und überließen sie einem französischen Bauern. Joey durfte nun wieder auf einem Bauernhof arbeiten. Er befreundete sich mit dem Bauern und seiner Tochter. Sie war überglücklich über ihre Pferde. Nach einiger Zeit wurden sie jedoch nochmals von Soldaten beschlagnahmt. Beide Pferde wurden schwer krank. Joeys Pferdekamerad starb. Eine Weile war Joey sich selbst überlassen und irrte im Niemandsland umher. Aber er überlebte den Krieg. Und zum guten Schluss fand er seinen Freund Albert wieder.  

 

Es ist eine berührende Geschichte über die Schrecken des Krieges und die Kostbarkeit von Freundschaft geworden. Im Originaltitel heißt das Buch "warhorse" (Kriegspferd). Es wurde in viele Sprachen übersetzt. Auf deutsch heißt es "Gefährten". Es ist für größere Kinder und Jugendliche geschrieben. Es wurde außerordentlich erfolgreich. Das Nationaltheater in London hat eine Bühnenfassung aufgeführt, die über viele Jahre vor stets ausverkauften Häusern aufgeführt wurde. Im Moment sind sie wieder mit diesem Stück auf Tournee. Außerdem gibt es eine Fassung der Geschichte als Lesung mit Konzert. Und  Steven Spielberg hat einen Film daraus gemacht. 

 

"Warum schreibst du über Krieg", wurde Michael Morpurgo gefragt. Er sagte: "Ich bin 1943 geboren, am Ende des 2. Weltkriegs. Ich habe keine Erinnerungen an die Zeit des Krieges. Aber als ich aufwuchs, war die Stimmung in London traurig und düster. Jede Familie hatte Söhne, Töchter, Väter und andere Verwandte im Krieg verloren. Ich sah ich die Ruinen in London. Unser Nachbarhaus war von einer Bombe getroffen. Wir spielten in den Bombenkratern.  In den Straßen waren die Kriegsversehrten. Manche von ihnen hatten nur noch ein Bein oder einen Arm. Ich erfuhr, dass das mit dem Krieg zu tun hatte. Allmählich verstand ich, wie fürchterlich Krieg ist. Die Kinder heute haben keine solche direkte Anschauung. Sie sind in Friedenszeiten aufgewachsen. Aber die Kriege haben nicht aufgehört. In so vielen Ländern ist Krieg! In den Nachrichten und im Internet hören die Kinder und Jugendlichen von Krieg. Es ist wichtig, dass sie sich einfühlen lernen in Menschen und Tiere, die vom Krieg betroffen sind. Sie sollen verstehen, dass Krieg keine Lösung ist. Er bringt immer nur noch mehr Leid. Wir müssen ihnen Gelegenheiten geben, um darüber zu sprechen. Es war großartig, dass so viele Familien zusammen das Bühnenstück angeschaut haben: Kinder mit ihren Eltern und Großeltern, mit Onkeln und Tanten und Urgroßeltern. Und viele Schulklassen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern sind gekommen. Sie alle ließen sich berühren von dieser Geschichte." 

 

Bücher und Geschichten erweitern unseren Horizont. Sie helfen uns, uns einzufühlen in andere. Sie helfen uns, Mitgefühl zu lernen. Sie helfen uns, über unsere eigene Erfahrung hinauszudenken. Sie helfen uns, die Erfahrungen der Generationen vor uns zu bedenken. Es ist wichtig, dass Kinder solche Bücher und Geschichten zu lesen bekommen, die aufrichtig vom Leben erzählen. Spannend sollen sie sein. Aber sie sollen nicht traumatisieren. Sie sollen das Beste in den Kindern und Jugendlichen stärken. Und sie sollen nicht alles erklären, sondern Fragen hervorrufen. Michael hat viele solche Bücher geschrieben. Inzwischen sind es mehr als 120 Bücher. Er ist einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren in England geworden.

 

Ich bin froh, dass ich ihn entdeckt habe. Ich höre ihm gerne zu und lese sehr gerne, was er geschrieben hat. Und ich habe neu verstanden, was ich auch als meine Aufgabe betrachte: Offen zu sein für die Geschichten, die andere erlebt haben. Gut hinhören und nachfragen und mich hineindenken. Und dann eine gute Geschichte daraus entstehen lassen. Eine Geschichte, die Wesentliches und Wahres enthält. Eine Geschichte, die gerne gelesen und weitererzählt wird. Es gibt mir tiefe Befriedigung, das zu tun. Und ich freue mich zu wissen, dass jeden Sonntag Leute auf meine Geschichten warten. 

 

Ich grüße Sie alle und euch alle sehr herzlich. 

Alles Liebe und Gute für Sie und für Euch! 

Gabriele Koenigs 

 

 

 

P.S. Wer mehr von Michael Morpurgo und seinen Büchern erfahren will, kann auf seine Internetseite schauen: 

Home - Michael Morpurgo Official Site

 

Und bei youtube findet man viele Videos, in denen er interviewt wird oder aus seinen Büchern vorliest. 

  

 


Hier ist eine Unterhaltung mit Michael Morpurgo im Nationaltheater London aufgezeichnet. Er spricht über das Buch und das Bühnenstück und seine Motivation, so etwas zu schreiben. Man sieht Fotos aus der Aufführung und erlebt Michael als den begnadeten Erzähler, der er ist. Das ist kein kurzes Video. Es dauert eine ganze Stunde. Gut geeignet für ein Mußestündchen an einem regnerischen Tag! Viel Freude dabei! Man kann die englischen Untertitel einstellen. Das hilft zum Verstehen, mir jedenfalls. 

 

Videos bei youtube sind mit Werbung verbunden. Sie können die Werbung jedoch deutlich verkürzen, indem Sie auf die Schaltfläche klicken, die nach wenigen Sekunden rechts unter dem Video erscheint: überspringen. 


Hier singt der Rundfunkchor des WDR die Friedensbitte: "Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten...", komponiert von Felix Mendelssohn. Und interessant arrangiert mit einem Saxophonquartett. Wunderschön und ergreifend! 

 

Und hier singt der Kammerchor "Six de Chœur" den bekannten Kanon "Dona nobis pacem" - Gib uns Frieden! Stimmen Sie ein mit diesen wunderschönen Stimmen! 

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Kommentare: 1
  • #1

    Gudrun (Sonntag, 28 September 2025 09:14)

    Dein Rosenbild hat mich sofort ergriffen und mir wieder GOTTES Schönheit in Wort und Schöpfung gezeigt, liebe Gabriele, du hast die Gabe, eine solche Schönheit in ihrer Innigkeit zu malen. Dieses Rosenbild würde ich sofort bei mir aufhängen. Dein Können ist große Kunst!