Du gibst meiner Seele große Kraft

Meister im Loslassen. Aquarell von Gabriele Koenigs (2025). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 50 cm x 50 cm. Als Original erhältlich
Meister im Loslassen. Aquarell von Gabriele Koenigs (2025). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 50 cm x 50 cm. Als Original erhältlich

Dorothee lebt seit einem Jahr wieder in ihrer Heimatstadt. Dort wurde ein Wohnblock mit behindertengerechten Wohnungen neu errichtet. Der Wohnblock steht ganz in der Nähe des Hauses, in dem ihr Zwillingsbruder mit seiner Familie wohnt. Das war die ideale Gelegenheit für sie. Als Rollstuhlfahrerin braucht sie eine Wohnung ohne Schwellen, einen Hauseingang mit elektrischem Türöffner, einen Aufzug und ein behindertengerechtes Bad. Es ist eine schöne, helle Wohnung mit großen Fenstern und einem Balkon. Sie ist sehr froh, dass sie nun dort leben kann. Sie hat alles gemütlich eingerichtet. Ihr Bruder und seine Frau sind sozusagen in Rufweite. Einmal in der Woche essen sie zusammen zu Mittag. Das ist ihr regelmäßiger Termin. Ansonsten sehen sie sich nach Lust und Laune und bei Bedarf. 

 

 

Dorothee hat sich mit den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern allmählich bekannt gemacht.  Manche von ihnen sind viel älter als sie und dennoch wesentlich fitter. Es sind interessante Menschen darunter. Mit sechs von ihnen hat sie einen Lesezirkel gegründet. Sie suchen sich für jeden Monat ein Buch aus. Jede und jeder liest im eigenen Tempo. Am Ende des Monats treffen sie sich, um über das Buch zu sprechen. Es ist spannend, welch unterschiedliche Gedanken und Gefühle durch ein Buch ausgelöst werden. Es ist interessant, mit welchem Blickwinkel die anderen auf ein Buch schauen. Manche reden über die Gefühle und Handlungen der Hauptpersonen. Andere über den Schreibstil und den Aufbau. Manche erzählen dabei auch von eigenen Erinnerungen, die in ihnen beim Lesen hochgekommen sind. Durch diesen Austausch lernen sie einander auf einer viel tieferen Ebene kennen, als wenn sie nur über Krankheiten und Altersbeschwerden reden würden. 

 

 

Vor 30 Jahren ist Dorothee in der Nacht eine Treppe hinuntergefallen. Sie war damals 37 Jahre alt. Es ist im Haus ihrer Mutter passiert, das diese kurz vorher bezogen hatte. Dorothee war mit ihren beiden kleinen Kindern dort zu Besuch. Sie kannte sich dort noch nicht gut aus, schon gar nicht in der Nacht. Als eines der Kinder nachts auf die Toilette musste und sie nach dem Lichtschalter im Treppenhaus tastete, verlor sie plötzlich den Halt, trat ins Leere und stürzte die Treppe hinab. Als sie nach der Notoperation im Krankenhaus wieder erwachte, konnte sie nur noch ihren Unterarm bewegen. Alle sonstigen Gliedmaßen waren gelähmt. Nirgends im Körper konnte sie etwas empfinden. Es war ein Schock für alle. 

 

Dorothee blieb fast ein Jahr im Krankenhaus. Ganz, ganz allmählich kam Leben in ihre Glieder zurück. Jede Woche waren minimale Fortschritte zu sehen.  Die Pflegenden und Therapeuten und Ärzte in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik taten alles für sie. Mit ihrem ganzen professionellen Können haben sie ihr die nötigen Bewegungen gezeigt. Humorvoll gingen sie mit den Missgeschicken und Durchhängern um. Sie gaben ihr stets Zuversicht, dass es besser wird. Und Dorothee hatte einen unbändigen Lebenswillen. Ihr war klar, dass ihr Leben nie mehr sein würde wie vor dem Sturz. Aber jeden Tag betete sie: "Bitte lass mich wieder selbstständig werden! Ich möchte wieder für meine Kinder sorgen können!" Und sie trainierte hart dafür. In der Klinik hat sie gelernt, vom Bett in den Rollstuhl umzusteigen und sich selbst anzuziehen. Sie hat gelernt, wie sie kochen und backen kann, trotz der eingeschränkten Funktion ihrer Hände. Und sie hat den Umgang mit einem behindertengerechten Fahrzeug gelernt. Sie hat geübt, wie sie in das Fahrzeug einsteigen und ihren Rollstuhl einladen kann.  Ihre Mutter zog unterdessen in das Haus der jungen Familie. Hingebungsvoll sorgte sie zusammen mit Dorothees Mann Walter für den Haushalt und die Kinder. Dorothee wusste die Kinder bei ihnen in guten Händen.  An jedem Wochenende kamen sie miteinander zu Besuch ins Krankenhaus. Für ihren Mann war es eine große Herausforderung, plötzlich eine behinderte Frau zu haben. Aber er stand zu ihr. 

 

 

Wir sitzen in ihrer neuen Wohnung. Sie hat mich eingeladen. Wir lassen uns ein Stück Kuchen schmecken und erzählen. Sie sagt: "Es gab einen Moment, in dem ich dachte, dass es besser wäre zu sterben. Aber dann ist mein Lebenswille zurückgekehrt. Ich wollte leben, auf jeden Fall. Und ich wollte für meine Kinder da sein. Ich habe mich sehr angestrengt, das zu schaffen. Und ich hatte viele gute Menschen um mich, die mir geholfen haben. Meine Familie zuerst, aber auch Freunde. Ich bekomme so viel Hilfe, bis heute. Ich bin immer wieder gerettet worden. Ich bin niemals allein."

 

"Wie meinst du das", frage ich. Sie sagt: "Ich weiß einfach, dass Gott da ist und mich sieht und mir hilft. Viele Menschen können heutzutage nicht mehr an Gott glauben. Aber für mich kommt aus dem Glauben meine Kraft."

Das verstehe ich auf Anhieb. Das ist auch bei mir so. Wir können uns beide nicht vorstellen, wie wir leben könnten ohne den Glauben an die göttliche Liebe. "Wie sprichst du ihn an", frage ich. Sie antwortet: "Ich brauche gar keine Titel. Ich sage einfach nur DU. Ich muss ihm auch nicht viel sagen, er weiß alles. Ich bete: 'Danke... Du bist da. Ich überlasse mich dir. Hilf mir.'“

 

Dorothee hat ein tätiges Leben gelebt. Neben den Aufgaben in der Familie hat sie einen halben Lehrauftrag als Religionslehrerin in der Schule gehabt. Sie war Kirchengemeinderätin, hat im Frauenkreis und bei der Kinderbibelwoche mitgearbeitet und jedes Jahr den Gottesdienst zum Weltgebetstag der Frauen gestaltet. Ihre beiden Söhne sind jetzt erwachsen. Sie hat bis zum Eintritt in den Ruhestand gearbeitet. Dann hat sie sich entschieden, in ihre Heimat von früher zurückzukehren. Es war eine große Entscheidung, das Haus zu verlassen, in dem sie so viele Jahre mit ihrer Familie gelebt hat, und dazu auch das soziale Umfeld mit den Freunden, Nachbarn und Bekannten. Es war eine große Aufgabe, die Habseligkeiten so zu reduzieren, dass sie nun in zwei Zimmern leben kann. Mit vereinten Kräften haben sie es geschafft. Die ganze Familie hat mitgeholfen. Aller unnötige Ballast ist abgeworfen.  Der Neuanfang ist gemacht.

 

Sie hat sich ein Gemälde von mir für ihre neue Wohnung gekauft. Ich habe ihr einige Bilder zum Aussuchen gebracht. Sie hat sich für ein Pusteblumenbild entschieden. Pusteblumen sind die "Meister im Loslassen". Dorothee ist es auch. In ihrem Leben musste sie immer wieder loslassen. Auch ihren Mann und ihre Mutter musste sie loslassen. Ihr Mann starb völlig unerwartet. Ihre Mutter starb im hohen Alter. Der Verlust tat ihr sehr weh.  Beide Male musste sie lernen, sich im Leben neu zurechtzufinden, ohne diese geliebten Menschen. 

 

Nun freut sie sich auf ihr erstes Enkelkind, das schon unterwegs ist. Und sie ist froh, dass sie bald in eine gute Rehabilitationsklinik kommt. Sie hat schon den Termin. Sie hat zur Zeit sehr viele Schmerzen. Sie hat sich in ihrem tätigen Leben oft überfordert und überanstrengt. Nun muss sie nochmals neu lernen, gut für sich selbst zu sorgen in der Zeit, die ihr hier noch bleibt. Sie weiß, wie nötig das ist. Und sie vertraut darauf, dass es geschehen wird. 

 

In einem Psalm in der Bibel steht der Vers: "Du gibst meiner Seele große Kraft." Diese Worte sind nicht nur Worte. Für Dorothee und auch für mich ist dies eine Lebenserfahrung. Sie kehrt immer wieder. Es wird uns immer wieder geschenkt. Wir leben aus dieser großen Kraft, jede auf ihre Weise. Wir sind zutiefst dankbar dafür. 

 

Auch Ihnen allen und Euch allen wünschen wir diese Erfahrung.  

Alles Liebe und Gute für Sie und für Euch! 

 

Gabriele Koenigs 

 

 


Hier können Sie das Lieblingslied von Dorothee anhören. Es stammt aus Brasilien und wurde auf deutsch übersetzt: "Ich sing dir mein Lied...". Ein schwungvolles Lied, mitreißend und voller Lebensfreude. Viel Freude beim Anhören und Mitsingen! 

 

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Und hier kommt noch eines ihrer Lieblingslieder: "Du bist da, bist am Anfang der Zeit..." Es ist eine Nachdichtung von Psalm 139, nachdenklich und tröstend. 


Ich habe eine gute Nachricht bekommen, die ich gleich mit Ihnen und Euch teilen möchte. Nächstes Jahr darf ich im Mai (1. - 25.5.2026) in der katholischen Stiftskirche in der Altstadt von Baden-Baden eine Ausstellung meiner Bilder zeigen! Ich denke schon über den Titel nach. Ich neige dazu, den Titel zu geben: Große Kraft.  

 

Ich freue mich sehr auf diese Ausstellung, die eine langjährige Freundin meiner Kunst eingefädelt hat. 

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