Ein denkwürdiger Versprecher

 

 

Ein Abend im Advent ist mir unvergesslich. In einer Kirchengemeinde hatten wir die Aktion „Lebendiger Adventskalender“. Jeden Abend versammelten wir uns zu einer verabredeten Zeit unter einem bestimmten Kastanienbaum. Jeden Tag war die Zusammensetzung anders. Manche traf man jeden Abend, manche waren nur ab und zu dabei. Viele Kinder waren dabei, Eltern und Großeltern und Alleinstehende. Manche Kinder trugen Laternen. Manche saßen im Kinderwagen. Es war immer ein fröhliches Völkchen. Wir sangen zuerst ein Lied und spazierten dann zusammen zu einem Haus im Ort. Dort wurden wir schon erwartet. Die Gastgeber und Gastgeberinnen hatten ein Fenster des Hauses festlich geschmückt. Und sie hatten eine Geschichte ausgesucht. Sie lasen ihre Geschichte vor. Anschließend gab es oft noch einen Becher Punsch oder ein Weihnachtskeks für alle. Wie haben wir diese abendlichen Zusammenkünfte genossen!

 

An diesem Abend hatte die Gastgeberin eine Adventsgeschichte ausgesucht. Es ging darum, dass sich jemand bei den Engeln beschwerte, dass die Welt so furchtbar ist. Alles wurde aufgezählt, was furchtbar ist: Krieg, Hunger, Flucht, Erdbeben und noch mehr. Bei dem Wort „Erdbeben“ versprach sich die Gastgeberin. Sie las stattdessen: „Erdbeeren…“ Ich musste schmunzeln. Und von da ab konnte ich gar nicht mehr richtig zuhören. Ich kam in ein tiefes Nachdenken. Jedenfalls habe ich im Nachhinein keine Ahnung mehr, wie die Geschichte weiterging. Aber die „Erdbeeren“ habe ich mir gemerkt. Dieser Moment ist mir bis heute unvergesslich. 

 

Versprecher kommen aus dem Unbewussten. Sie erinnern uns an das, was wir vergessen oder verdrängt haben. Sie erinnern uns an das, was wir ausgeblendet haben.

 

Die Welt ist furchtbar, das ist wahr. Aber das ist nur eine Hälfte der Wahrheit. Die Welt ist zugleich schön. Erdbeeren im Frühsommer – wie herrlich! Möglichst noch ein Klecks Sahne darauf – herrlich! Gäste am Tisch, eine vergnügte Runde – wie herrlich! Ein vergnügtes Völkchen, mit Kindern und Laternen unterwegs - wie herrlich! Ein gemeinsames Lied und ein Becher Punsch - wie herrlich!

 

An manchen Tagen erleben wir beides, das Furchtbare und das Schöne, das Schwere und das Leichte. Beides ist zugleich da. Beides ist zugleich wahr. Unser Verstand kann das kaum begreifen. Der Verstand ordnet alles in Entweder- Oder. Aber unsere Seele kann es beides empfinden, beides zugleich.

 

Können wir sehen, wie gut wir es haben, trotz allem? Auch jetzt? Können wir dankbar sein, anstatt uns zu beschweren? 

 

Lassen Sie heute in sich das Gefühl von Dankbarkeit entstehen. Vielleicht legen Sie die Hand auf Ihr Herz und schließen einen Moment Ihre Augen. Nehmen Sie wahr, dass Ihr Herz schlägt und dass Sie atmen können. Nehmen Sie die Fülle des Guten wahr, aus dem Sie leben. Nehmen Sie wahr, wie reich Sie beschenkt sind. Vielleicht mündet Ihre Wahrnehmung in ein Dankgebet?

 

Und vielleicht nehmen Sie heute etwas ganz Gutes auf Ihre Zunge und genießen es aus vollem Herzen. Es müssen ja nicht unbedingt Erdbeeren sein. Ein Stückchen Orange oder ein Weihnachtsplätzchen eignet sich auch.

 

Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen einen guten Tag.

Gabriele Koenigs

 

 

P.S: In den Gemälden ist auch beides zu sehen, Helles und Dunkles. Sie können mein Bild jetzt noch nicht erkennen. Es ist ja noch zum großen Teil verdeckt. Aber Sie sehen schon: Das ganze Spektrum kommt vor, so wie im Leben.