Wurst in der Schürzentasche

 

 

Mein Mann Gerhard ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Sie waren eine große Familie, jeder half mit. Und dennoch brauchten sie ab und zu Tagelöhnerinnen. Es war ein großer Betrieb. Sie hatten Vieh und Ackerwirtschaft und Obst. Ein paar Frauen aus dem Dorf kamen zum Beispiel zum Rüben hacken. Sie bekamen ihren Lohn und zusätzlich etwas zum Essen. Nachmittags arbeiteten die Frauen mit seiner Mutter auf dem Feld. Gerhard deckte in der großen Küche den Tisch für das Abendessen nach der Arbeit. Er wusste, was auf den Tisch musste: Most, Brot, zweierlei Wurst. Wenn sie zum Essen kamen, waren sie hungrig. Seine Mutter teilte jeder Frau ihre Wurstportion zu. Jede Frau bekam die gleiche Portion. Sie war reichlich bemessen. Brot und Most konnten sie selbst nehmen, soviel sie wollten. Gerhard saß meistens mit am Tisch und aß mit ihnen.

 

Eines Abends sprach er mit seiner Mutter, als die Frauen weg waren. „Frieda isst immer nur zwei kleine Scheiben Wurst. Den Rest steckt sie in ihre Schürzentasche. Du könntest ihr weniger geben, sie braucht wohl nicht so viel.“ „Du Dummerle“, sagte seine Mutter. „Sie nimmt die Wurst mit nach Hause. Ihr Mann ist krank und kann gar nicht mehr arbeiten. Sie gibt ihm diese Wurst.“

 

Gerhard hat von seiner Mutter die Herzensgüte gelernt. Er hat gelernt, wie man geben kann, ohne jemand dabei zu beschämen und ohne ein großes Ding daraus zu machen. Und er hat gelernt, dass Sparen nicht an oberster Stelle im Leben steht. Sie hat es ihm vorgelebt. 

 

Ich bin sehr dankbar, dass wir einander gefunden haben und nun schon so viele Jahre unseres Lebens miteinander teilen. Ich bin sehr dankbar für alles, was er ist. Und ich weiß: Was er geworden ist, wurde er hauptsächlich durch das, was seine Mutter ihm vorgelebt hat. Ich konnte sie leider nicht mehr kennenlernen. Sie ist bei einem Unfall tödlich verunglückt, bevor wir einander fanden. Er erzählt mir ab und zu von ihr. Ich achte sie hoch, und ich höre sehr gerne solche Geschichten. Sie haben nichts Spektakuläres. Es sind keine Geschichten von der Art, wie sie in Zeitungen stehen. Es sind Geschichten von der Kraft der Liebe und des Glaubens im Alltag.

 

Und dies ist nun mein Vorschlag für heute: Erinnern Sie sich an Menschen, die Ihnen die Herzensgüte vorgelebt haben. Fallen Ihnen Geschichten dazu ein? Erzählen Sie es jemanden. Oder erzählen Sie es mir. Oder schreiben Sie es auf. Ich freue mich, wenn Sie mir Ihre Geschichten schicken.

 

Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen einen guten Tag.

Gabriele Koenigs