Einander wirklich anschauen

 

 

Im Alltag muss es meistens schnell gehen. Wir haben viel zu tun. In Warteschlangen anzustehen, zum Beispiel bei der Post - kann sehr lästig sein. Und wenn diejenigen vor uns ihr Anliegen nicht schnell erledigen können, ist es noch lästiger. Sogar im Urlaub ist es meistens so. Einmal hat mein Mann etwas anderes erlebt. Es hat ihn so beeindruckt, dass er es aufgeschrieben hat.

 

„Wissenschaftler sagen, dass die Sonne eines Tages all ihre Energie verbraucht haben wird, und sie am Ende als erkalteter Stern durch die Weiten des Weltalls kreisen wird. Leben auf der Erde gäbe es dann schon lange nicht mehr.

Mag sein, dass sie Recht haben. Vorerst braucht uns das aber keine Sorge zu machen. Das, was die Wissenschaftler ausgerechnet haben, wird länger auf sich warten lassen als unser Leben dauert.

Bedrohlicher ist die zunehmende Kälte im alltäglichen Miteinander. Blicke, die einen sehen und doch durch einen hindurchschauen, als wäre man gar nicht da. Gerade im Urlaub ist mir das wieder aufgefallen.

Eissalons an Urlaubsorten zum Beispiel sind oft hektische Orte. Die Schlange ist lang. Alles muss schnell gehen. Das leiseste Zögern bei der Antwort auf die Frage: „Was darf’s sein?“ ruft zumindest ein deutliches Hochziehen der Augenbrauen hervor. Ein klares Signal: „Jetzt mach mal. Wir haben hier nicht ewig Zeit“. Manch einer sagt dann halt, so unter Druck gesetzt, irgendwas, zählt willkürlich zwei, drei Namen der 34 angebotenen Eissorten auf. Und hinterher schmeckt’s nicht mal. Es kommt allein auf’s Funktionieren an, der Eisverkäufer als Eisverkäufer, der Eiskunde als Eiskunde.

Es kann auch anders gehen. In einem Badeort an der Ostsee habe ich es erlebt. Da steht eine kleine Eisbude, nur mit einer kleinen Theke. 4 -5 Leute warteten in der Schlange. Nur sechs Sorten Eis wurden angeboten. Es ging dennoch nur langsam voran. Mir blieb Zeit, die Angebote zu studieren. Rote-Grütze-Tüte klang gut: Zwei Kugeln Eis, Rote Grütze, Sahne, Schokokuss.

Also gut: „Eine Rote-Grütze-Tüte bitte!“ „Gerne, Sie dürfen sich zwei Kugeln Eis aussuchen“, antwortet die Eisfrau und schaut mich an. Sie sagt das in einem so warmen Ton und mit einem so freundlichen Gesicht, dass klar wird, aussuchen darf seine Zeit kosten.

Und dann bereitet sie ihre Spezialität: die Rote-Grütze-Tüte. Zuerst die zwei Kugeln Eis, dann mit der Schöpfkelle Rote Grütze drüber, eine Kelle, zwei Kellen und dann noch etwas dazu. Sahne obendrauf und ganz oben auf die Spitze einen Klecks Schoko-Sauce.

Und wie sie das macht! Mit einer Würde und Sorgfalt und Behutsamkeit, als wäre es das Kostbarste weit und breit. Ihre ganze Konzentration ist auf diese eine Rote-Grütze-Tüte gerichtet.

Und sie lächelt dabei. Sie lächelt auch, als sie mir die Eistüte über die Theke reicht, und sagt mit ihrer ganzen Freundlichkeit: „Das Stück Torte heute Nachmittag ist dann gestrichen“. Wie um noch einmal zu betonen, wie wertvoll das ist, was sie eben kreiert hat.

Im Weggehen höre ich sie zum Nächsten sagen: „Sie dürfen sich zwei Kugeln Eis aussuchen“.

Diese Begegnung, die an und für sich unbedeutend war, ist mir dennoch als einer der bemerkenswertesten Augenblicke des Urlaubs im Gedächtnis geblieben. Menschliche Kälte muss nicht sein. Physiker mögen darin recht haben, dass unsere Sonne und mit ihr all ihre Planeten in unvorstellbar ferner Zeit unausweichlich den Kältetod sterben werden. Doch dass unser menschliches Zusammenleben in Kälte erstarrt, das ist nicht zwangsläufig und nicht naturgegeben. Solange die Erde sich dreht und die Sonne mit ihrem Licht und ihrer Wärme das Leben auf der Erde erhält, haben wir die Möglichkeit, der zunehmenden Kälte im menschlichen Miteinander entgegenzutreten. Herzenswärme braucht’s dafür, Freundlichkeit, Geduld. Und Augen vor allem, die den anderen wahrnehmen, nicht durch ihn hindurchschauen, als wäre er gar nicht da.

Jeder und Jede von uns ist darauf angewiesen. Jeder und Jede von uns braucht menschliche Wärme. Erst durch sie wird das Leben lebenswert. Und: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch“ (Matthäusevangelium 7,12). Das ist ein in seiner Weisheit unübertroffener Rat, den Jesus von Nazareth seinen Freunden mitgab.

(Pfarrer Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs)

 

Und dies ist mein Vorschlag für heute:

Versuchen Sie heute, die Leute bewusst anzuschauen, denen Sie begegnen. Schauen Sie nicht durch sie hindurch. Nehmen Sie sie wirklich wahr. Lassen Sie sich auf die Begegnung ein. Wer weiß: Vielleicht bekommt dieser Tag dadurch einen besonderen Glanz?

Ich wünsche Ihnen und Euch allen einen guten Tag

Gabriele Koenigs