Eine Leserin dieses Adventskalenders hat mir aus dem Leben mit ihrer Tochter Johanna erzählt.
Johanna ist 41 Jahre alt. Sie wurde mit einer genetischen Besonderheit, dem Down Syndrom, geboren. Vor ein paar Tagen hatte sie Geburtstag. Während ihrer Schulzeit war sie ein lebensfrohes, aufgeschlossenes und unternehmungslustiges Kind. Als junge Erwachsene bekam sie schwere Depressionen. Inzwischen lebt sie in einer sozialtherapeutischen Einrichtung. Ihre Eltern holen sie am Wochenende und in den Ferien nachhause. Als Kind konnte sie lesen und schreiben. Inzwischen hat eine Demenz eingesetzt. Ihre sprachlichen Fähigkeiten haben stark abgenommen. Begriffe wie „Gott“ und „Erlösung“ sind zu hoch für sie. Sie lebt ganz in der Gegenwart. Sie faltet die Hände und hat einen innigen Ausdruck dabei. Sie hat ihre ganz eigene Beziehung zum Glauben.
Ihre Mutter schildert, wie es ist, wenn Johanna zuhause ist: „Johanna steuert die Küche an. Dort steht die halbautomatische Kaffeemaschine, die sie selbst bedient. Das Herausnehmen des Filterpapiers aus der Tüte zelebriert sie ganz langsam, um es dann nach mehrmaligem Herumdrehen aufwändig in den Filter zu platzieren. Das Wasser wurde von mir zuvor eingefüllt, sodass Johanna nur noch auf den Knopf zu drücken braucht. Aber das dauert. . . Hier werde ich auf die erste Geduldsprobe gestellt. Es wäre einfacher und schneller, ihr den fertigen Kaffee vorzusetzen. So stehe ich in der Küche und versuche meine Eile, die mir noch von früher in den Knochen steckt, zu stoppen. Ich habe doch Zeit!
Der Knopf ist gedrückt, der Kaffee wird gemahlen und das Wasser läuft. Johanna holt drei Tassen aus dem Schrank. Immer drei Tassen - für sich, ihren "lieben Vater" und mich.
Beim Kaffeetrinken spricht sie immer wieder das Wort „Sahne“ vor sich hin. Ihr dauerndes .Vor-sich-Hinreden kann nerven, zumal es meist keine aktuelle Verbindung zu den Wörtern gibt. Dann kann sie aber auf einmal wieder einen Gegenstand benennen, der vor ihr auf dem Tisch steht: "Der Adventskranz". Wir zünden die Kerzen an.
Nach dem Kaffeetrinken wendet sich Johanna den Geschenken zu. Liebe Menschen haben sie bedacht, wie in jedem Jahr. Alles steht für sie auf dem Gabentisch bereit. Ausgiebig betrachtet sie das neue Kleid. Doch bald stellt sich bei ihr Müdigkeit ein. Die übrigen Geschenke wird sie am nächsten Tag mit größter Sorgfalt auspacken und sich daran erfreuen. Nun sitzt sie in ihrem Sessel. Hier könnte sie ewig sitzen bleiben.
Irgendwann ist es Zeit, das Abendessen zuzubereiten. Da Johanna Küchenarbeit liebt, macht es Sinn, sie zu überreden, sich aus ihrem Sessel zu erheben. Endlich steht sie am Küchentisch und schnippelt Paprika. Mit voller Hingabe widmet sie sich ihrer Arbeit. Sie ist ganz in dem, was sie tut und stolz auf die Soße, die sie zubereitet. Beim Essen und Trinken ist sie auch ganz langsam. Wir können von ihr lernen. Wie oft essen wir zu schnell und unbewusst und schenken den "Lebensmitteln" zu wenig Beachtung.
Nach der Mahlzeit beginnt wieder eine Zeremonie der Langsamkeit und Hingabe. Circa eine Stunde braucht Johanna zum Ausziehen. Sie sitzt dabei auf der Steinbank des Kachelofens, auf der es die meiste Zeit des Jahres schön warm ist.
Auch hier stellt sich manchmal die Frage, ob man ihr nicht helfen soll, dass es schneller geht. Aber in der Regel lassen wir Johanna die Dinge, die sie noch selber kann, auch tun. In ihrem eigenen Tempo.“
In gewisser Hinsicht ist Johanna eine Lehrmeisterin. Sie tut alles mit Aufmerksamkeit und Hingabe. Sie lebt ganz in der Gegenwart. Sie verschwendet keine Energie mit Gedanken an die Zukunft oder Vergangenheit. Sie stellt sich nicht vor, was kommen wird. Sie trauert nicht über das, was sie verloren hat. Wie anders sind wir dagegen gestrickt. Wir haben so viel gleichzeitig im Kopf und setzen uns selbst und andere unter Druck. Wir wollen manches erzwingen und können es doch nicht.
Weihnachten ist für uns dieses Jahr ganz außergewöhnlich. Wir müssen auf vieles verzichten, das nach unseren Vorstellungen und Gewohnheiten dazugehört. Das fühlt sich nicht gut an. Viele Menschen sind in Klagestimmung. Aber wie wäre es, stattdessen an solche Menschen wie Johanna und ihre Eltern zu denken? Wie wäre es, an die Menschen in den Heimen und Einrichtungen zu denken? Wie wäre es, an die zu denken, die mit Schutzanzügen in den Krankenzimmern stehen? Die meisten von uns haben es vergleichsweise so gut.
Wie wäre es, wenn wir das annehmen würden, was uns nun gegeben ist? Wie wäre es, wenn wir uns an dem freuen könnten, was trotz allen Einschränkungen möglich ist? Johannas Mutter tut es auch. Sie liebt ihre Tochter – so, wie sie ist.
Ich wünsche Ihnen allen und euch allen einen guten Tag.
Gabriele Koenigs
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