Emma hat einen großen ovalen Spiegel. Er hängt in ihrem Stübchen. Er hat einen wunderschön verzierten goldenen Rand. „Oma, den habe ich im Sperrmüll gefunden! Der ist doch viel zu schade zum Wegwerfen“, hatte ihre Enkelin Lisa gesagt. Häng ihn bei dir auf. Und wenn ich eines Tages eine eigene große Wohnung habe, hole ich ihn zu mir.“ Emma war nicht ganz überzeugt, dass sie den Spiegel brauchen könnte. Aber ihrer Enkelin zuliebe hängte sie ihn auf. Er war ausgesprochen praktisch. Zwischen dem goldenen Rahmen und dem Glas war ein kleiner Spalt. Dort konnte sie allerhand Fotos und Spruchkarten hineinschieben. Sie war schon immer eine praktische Frau gewesen, und sparsam dazu. Niemals hätte sie sich einen Spiegel mit einem goldenen Rahmen geleistet! Er war eigentlich viel zu edel für sie. Solche Spiegel hängen in Palästen und Tanzsälen, aber nicht im Stübchen einer sparsamen schwäbischen Hausfrau.
Wenn sie das Prachtstück betrachtete, sah sie unweigerlich sich selbst. Sie sah ihre vielen Falten im Gesicht. Sie sah ihre feinen weißen Haare und das Doppelkinn. „Einen Schönheitswettbewerb könnte ich so nicht gewinnen!“ „Schon gar nicht mit meinen abgeschafften Händen und den gesplitterten Fingernägeln!“
Sie wich ihrem eigenen Anblick meistens aus. Lieber schaute sie sich die Fotos und die Spruchkarten an. Jedes Foto brachte ihr Erinnerungen zu. Eines brachte sie besonders zum Schmunzeln. Da saß sie mit ihrer Enkelin auf der Schaukel. Sie hatte eine Schürze umgebunden, grobe Schuhe an den Füßen und das Kind auf dem Schoß. Mit diesem Kind war sie manchmal so vergnügt gewesen! Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht. In diesem Moment begegnete sie ihrem Spiegelbild. So blitzende Augen, so wach! Solche schönen Grübchen! So vorwitzige Haare! Eine Locke quer über die Stirn!“ Sie lächelte sich zu. Ein Wohlbehagen breitete sich in ihr aus.
Von diesem Tag an schaute sie sich jeden Tag ein Weilchen an. Manchmal kam der Übermut über sie. Sie verzog ihr Gesicht zur Grimasse. Sie machte etwas Lustiges mit den Händen. Sie setzte sich ein Hütchen auf. „Gut, dass mich jetzt niemand sieht“, dachte sie. „Die würden ja denken, ich wäre verrückt geworden!“ „Dabei habe ich nur angefangen, mich selbst zu mögen. Es fühlt sich gut an, gut wie nie zuvor.“
Wer von uns mag sich selbst? Wer von uns kann sich selbst aus ganzem Herzen lieben? Für Frauen ist das besonders schwierig. Wir sind dazu erzogen, die anderen zu lieben. Früh haben wir gelernt, dass man nicht eitel sein soll und nicht egoistisch und eigensinnig. Am besten, man fällt gar nicht auf. Vor allem in frommen Elternhäusern wurde das von Generation zu Generation weitergegeben. Auch ich bin so erzogen worden. Nächstenliebe war groß geschrieben. Sich selbst zu lieben stand unter Egoismusverdacht. Dabei hat Jesus gesagt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“
Inzwischen ist mir klar: Wenn wir uns selbst die Liebe schuldig bleiben, fehlt etwas Wichtiges. Es ist durch nichts anderes zu ersetzen. Nicht durch Leistung und Geschäftigkeit. Nicht durch Gebete und fromme Sprüche. Auch nicht durch Geld. Auch nicht durch Anerkennung. Niemand anderes kann uns das geben. Nur wir selbst.
Wie wäre es, damit anzufangen, gleich heute? Wie wäre es, sich selbst im Spiegel zuzulächeln? Wie wäre es, sich selbst etwas Gutes zu gönnen? Ein paar Tröpfchen Hautöl in die Hände nehmen und das Gesicht massieren? Recken und strecken? Eine schwungvolle Musik auflegen und ein Tänzchen wagen? Das Telefon in die Hand nehmen und jemand anrufen? Ein Lieblingsgericht kochen? Das schönste Kleid anziehen, einfach so? Etwas wegwerfen, das uns noch nie gefallen hat? Ein paar Blümchen auf den Tisch stellen?
Ich könnte Ihnen und Euch noch viele Ideen aufzählen. Die besten Ideen kommen euch wahrscheinlich selbst.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag und eine gute Woche
Gabriele Koenigs
P.S: Dieses Bild und diese Geschichte werden in meinem neuen Buch enthalten sein. Es wird voraussichtlich am 15. Juni 2021 erscheinen. Der Titel wird heißen: Alles wird gut.
Hier kommt ein Stück vergnügte Gitarrenmusik von dem Gitarrenvirtuosen David Qualey.
Ich suchte ein Lied über Selbstliebe und fand leider gar nichts. Das sagt schon alles über unsere Tradition, nicht wahr? Wer doch etwas weiß und kennt, möge es mir bitte schreiben!
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Viel Vergnügen beim Anhören!
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