Kurt war ein lebenslustiger Mensch. Schon morgens früh auf dem Weg zur Arbeit pfiff er ein Liedchen vor sich hin. In seinem Schreibwarenladen verkaufte er Zeitungen, Lottoscheine, Briefmarken, Schulhefte und allerlei Krimskrams. Viele Leute gingen täglich bei ihm ein und aus. Sie liebten die heitere Atmosphäre im Laden. Er hatte für jeden ein gutes Wort und oft einen flotten Spruch. Seine Sängerkameraden kamen besonders gerne. Es gab immer was zu bereden. Einmal in der Woche trafen sie sich abends zum Singen. Kurt hatte eine gute, klare, sichere Tenorstimme. Er liebte es, mit seinen Kameraden zusammen zu singen. Sie sangen den hochbetagten Geburtstagskindern ein Ständchen und wirkten bei Festgottesdiensten mit. Einmal im Jahr gaben sie ein großes Jahreskonzert. Und sie nützten jede Gelegenheit, um gemütlich beieinander zu hocken und ein Gläschen Wein zu trinken.
Ab und zu mussten sie auch auf dem Friedhof singen. Das waren die schwersten Gänge für ihn. Er hatte diejenigen gekannt, die jetzt so reglos im Sarge lagen. Er hatte vieles mit ihnen geteilt. Und nun war ihr Leben vorbei. Er trauerte um sie. Und er dachte manches Mal: „Einmal wird es so weit sein, dass ich selbst im Sarg liege!“ Der Gedanke war kaum zu ertragen. Sowie er den schwarzen Anzug nach der Beerdigung wieder ausziehen konnte, fiel ihm wieder ein lustiger Spruch ein. Er musste die düsteren Gedanken verscheuchen.
Alt werden ist nichts für Feiglinge. Immer öfter zitterten seine Hände. Er wurde steif und immer steifer. Die Augen machten auch nicht mehr mit. Hin und wieder dachte er: „Kurt, jetzt wirst du alt!" Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und schloss den Laden. Alle Kunden bedauerten das. Viele brachten ihm ein Fläschchen Wein oder sagten ein paar Worte des Dankes. Es war rührend, und es war schwer zu ertragen. Er verdrückte sich die Tränen. „Alles hat ein Ende – nur die Wurst hat zwei!“ Er versuchte, sich und die anderen zu trösten. „Wir sehen uns trotzdem weiterhin“, sagten sie einander. „Wir bleiben im Kontakt!“
Als alles rund um den Laden abgewickelt war, fühlte er eine große Erleichterung. Er konnte jetzt eine langsamere Gangart einlegen. Er hatte mehr Zeit mit seiner Frau als jemals zuvor. Jeden Tag frühstückten sie gemütlich zusammen. Nachmittags drehten sie draußen eine Runde. Dabei trafen sie den und jenen und blieben immer wieder zu einem Schwätzchen stehen. Ihm war das sehr recht – nicht nur wegen dem Kontakt. Er brauchte die Pausen. Das Gehen wurde stockend. Der Hausarzt diagnostizierte Parkinson. Er bekam viele Medikamente. Seine Frau umsorgte ihn liebevoll. Ab und zu dachte er an das Sterben. Aber die beiden trauten sich gar nicht, darüber zu sprechen. Unausgesprochen hing das schwere Thema über ihnen wie ein Damoklesschwert.
Eines Nachts träumte er einen sehr besonderen Traum. Er war draußen unterwegs, in einer Gegend, die er gar nicht kannte. Er ging auf einem schmalen Weg, voller Staunen. Dieser Weg führte ihn schließlich zu einer Mauer. Eine Tür war in der Mauer. Sie war nicht verschlossen. Sie war leicht angelehnt. Ein großes Licht kam durch den Spalt. Unwiderstehlich zog ihn das Licht an. Er ging näher hin, öffnete die Tür ein Stückchen weiter und schaute. Er sah in das hellste Licht, das er jemals gesehen hatte. Es funkelte golden und warm. Es schmerzte gar nicht in den Augen. Er verweilte ein wenig in diesem wunderbaren Licht. Dann wachte er auf.
„Ich muss dir von meinem Traum erzählen“, sagte er beim Frühstück zu seiner Frau. „Ein solches Licht habe ich noch nie gesehen!“ Tränen der Rührung kamen in seine Augen beim Erzählen. Tränen der Rührung waren auch in ihren Augen. Sie sagte: „Das ist ein Gotteszeichen“. Er nickte nur. Sie nahmen einander in den Arm.
Von nun an war der Bann zwischen ihnen gebrochen. Ab und zu sprachen sie miteinander über das, was noch zu regeln war. Sie lebten jeden Tag voller Dankbarkeit für das, was möglich war. Sie bereitete ihm die leckersten Mahlzeiten zu. Er holte immer wieder eine Blume aus dem Garten für sie. Einmal bestellte er beim Gärtner einen riesengroßen Rosenstrauß. Als er ihn ihr überreichte, sagte er: „Ich bin dir so dankbar für alles, und ich liebe dich für immer.“ Ab und zu nahm er ein Lied auf seine Lippen. Die Stimme war nicht mehr so kraftvoll wie sie einst gewesen war. Aber sie war immer noch klar und die Töne waren rein. Er summte jetzt gerne. Manchmal summte er ein paar Zeilen aus dem Lied: „Näher, mein Gott, zu dir…“.
Eines Tages fand seine Frau beim Blättern im Gesangbuch einen Spruch, der überraschenderweise genau zum Traum ihres Mannes passte. Sie schrieb ihn in ihrer schönsten Schrift auf eine Karte.
„Einmal öffnet sich die Tür,
und ich steh nicht mehr im Dunkeln,
steh im Saal,
da ohne Zahl
Sterne tausendstrahlig funkeln.
Klage nicht, mein Herz, vertrau,
einmal wird sich alles wenden.
Einer hält,
wie alle Welt,
so auch mich in seinen Händen.“
(Gerhard Fritzsche 1911 - 1944).
Dankbar nahm er die Karte aus der Hand seiner Frau entgegen. Sie bekam einen Ehrenplatz auf seinem Nachttisch. Allmählich kannte er die Worte auswendig. Sie taten ihm gut.
So lebte er die Tage, die ihm noch blieben. Er freute sich auf das goldene Licht. Er hatte ein gutes Leben gelebt. Etwas Besseres wartete auf ihn. Etwas Unbekanntes, radikal Neues. Er lebte ihm entgegen. Im Frieden hauchte er schließlich seinen Geist aus.
Eine Frau hatte von seinem Traum gehört. Sie suchte jemand, der das für sie malen könnte. Schließlich fand sie mich. Sie bat: „Bitte malen Sie diesen Traum!“
Mit großer Freude habe ich das getan. Sehen Sie das goldene Licht, das aus dem Türspalt nach draußen strahlt? Es funkelt auch auf dem Türrahmen. Es fällt auf die Türschwelle und auf den Weg.
Beim Erschaffen des Bildes hatte ich eine besondere Idee. Ich habe kleine Stückchen von Schlagmetall auf den Boden vor der Tür und auf den Weg eingearbeitet. Sie leiten den Blick des Betrachters zur Tür. Sie weisen hin auf das, was dahinter zu erwarten ist. Mir ging dabei das Märchen von Hänsel und Gretel durch den Kopf. Im Märchen liegen die Kieselsteine auf dem Weg und funkeln im Mondlicht und zeigen den Kindern den Weg nach Hause.
Auch wir sind auf dem Weg nach Hause. Wir bekommen Hinweise auf unserem Weg, nicht wahr?
Träume können solche Hinweise sein. Liedverse, Bibelstellen, Gedichte, Zeugenworte und mehr. Sie weisen uns hin auf das, was wir erwarten dürfen in der anderen Welt.
Immer wieder werden uns Hinweise geschenkt. Immer wieder werden wir getröstet. Unser Weg endet nicht im Dunkel. Er führt uns ins Licht. Das ist auch meine Hoffnung.
Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche
Gabriele Koenigs
P.S. Diese Geschichte und dieses Bild werden in meinem neuen Buch enthalten sein. Es wird den Titel tragen: "Alles wird gut" und erscheint voraussichtlich am 15. Juni 2021.
Hier gibt es das Lied "Näher zu dir", mit Text zum Mitlesen und Mitsingen. Viel Freude beim Hören, Lesen und Singen.
Videos bei youtube sind mit Werbung verbunden. Sie können die Werbung deutlich verkürzen, indem Sie auf die Schaltfläche klicken: Werbung überspringen.
Kommentar schreiben