Susanne war ein nachdenkliches Mädchen. Leider war sie ein bisschen zu dick. Sie machte nicht gerne Sport. Sie las lieber. Sie wurde oft von ihren Klassenkameraden gehänselt. Sie fühlte sich oft allein. Ihr Tagebuch ersetzte ihr die beste Freundin. Sie schrieb sich alles vom Herzen. Manchmal schrieb sie auch Geschichten und Gedichte. Ihr Vater brachte ihr immer wieder Notizbücher mit. Scherzhaft sagte er: „Du wirst einmal Schriftstellerin!“
Als die Zeit der Berufswahl kam, redeten ihr alle zu, einen Beruf zu erlernen, der ein regelmäßiges Einkommen bringt. Es leuchtete ihr ein. Sie wurde Arzthelferin. Sie machte die Arbeit in der Praxis recht gerne. Sie war freundlich zu den Patienten und hörte ihnen aufmerksam zu. Auch sie hatten interessante Geschichten. Ihr Chef bemerkte bald ihr großes sprachliches Talent. Sie bekam die Aufgabe, die gesamte Korrespondenz durchzusehen und zu korrigieren. Er schätzte sie sehr. Abends nach der Arbeit war sie so ausgelaugt, dass sie kaum noch zu Büchern griff. Ihr Tagebuch blieb auch meistens ungenutzt.
Eines Tages war sie mit dem Zug unterwegs. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich. Sie war glücklich. Endlich hatte sie mal wieder Zeit für ihr Tagebuch. Sie schrieb alles auf, was sie in der letzten Zeit bewegt hatte.
„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“ Susanne nickte. Eine Frau verstaute ihr Gepäck auf der Ablage über ihren Kopf. Sie zog ein Notizbuch aus dem Rucksack und ein Mäppchen mit verschiedenen Stiften. Sowie sie Platz genommen hatte, fing sie an, in ihrem Notizbuch zu arbeiten. Susanne war fasziniert. Ein wenig neugierig war sie auch. Die beiden kamen ins Gespräch. Auf Anhieb verstanden sich die beiden. Ihre Sitznachbarin war auf der Heimfahrt von einem Schreibkurs. „Wir lernen gerade, wie man eine Story aufbaut und was nötig ist, dass die Leser dabei bleiben.“ Susannes Herz klopfte. „Wie gerne würde ich so etwas auch lernen!“ „Nicht nur für mich selbst schreiben, sondern auch für andere!“ Ihre Sitznachbarin erzählte ausführlich vom Kurs. Bevor sie ausstieg, tauschten sie noch die Adressen aus.
In dieser Nacht konnte Susanne kaum schlafen. Ihr Herz klopfte laut und wild. „Du wirst einmal Schriftstellerin“, hatte ihr Vater schon vor vielen Jahren gesagt. Aber wie sollte das gehen? Sie brauchte das regelmäßige Gehalt aus der Arztpraxis. Ihr Mann verdiente nicht genug, um die Familie allein zu ernähren. Der Sohn war kurz vor dem Schulabschluss. Er wollte gerne ein Studium anfangen. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Es ist ein langer Weg, bis man ein Buch geschrieben hat. Ein noch längerer Weg, bis man damit bekannt wird. Ich bin nicht mehr jung. Endlich schlief sie ein.
Ein paar Tage später saß die Familie am Frühstückstisch. Es war Sonntag. Sie hatten Zeit. Susanne nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Ich möchte dieses Jahr eine Woche alleine verreisen. Es gibt einen Ferienkurs für kreatives Schreiben. Dort möchte ich mitmachen.“ Ihr Mann und ihr Sohn waren sehr erstaunt. Aber Susanne war sicher in ihrer Entscheidung. Sie spürten, dass es gar keinen Sinn hatte, ihr Steine in den Weg zu legen.
Von da an ging es Schritt für Schritt. Nach dem Kurs begann sie ein Schreibprojekt. Sie verband sich mit anderen, die schreiben. Sie lernte fortwährend. Sie nutzte den Feierabend und die ganz frühen Morgenstunden zum Schreiben. Sie lebte auf. Drei Jahre später hatte sie ihr erstes Buch im Selbstverlag veröffentlicht. Sie reduzierte ihren Job in der Arztpraxis. Ideen und Kontakte flossen ihr zu, unaufhörlich. Geschichten entwickelten sich in ihrem Kopf und fanden den Weg auf das Papier. Das Leben fühlte sich nun so prickelnd an. Sie blühte auf. Sie wirkte viel jünger als zuvor. Ihre Geschichten taten den Lesern gut. Sie bekam viele dankbare Rückmeldungen. Sie schrieb in ihr Tagebuch: „Mein Leben ist jetzt einfach wunderbar! Niemals hätte ich gedacht, dass Leben so schön sein kann! “
Vielen Menschen geht es so wie dieser Frau. Sie sind in ein Fahrwasser geraten, das nicht zu ihnen passt. Und dennoch bemühen sie sich, dort zurechtzukommen. Sie sind fleißig. Sie werden anerkannt. Und doch ist es fast wie ein Gefängnis. Das Einzigartige in ihnen kommt gar nicht zum Blühen. Sie sind ausgelaugt und haben keine wirkliche Freude am Leben. Das Leben ist mehr Pflicht als Freude.
In meinem Bild habe ich dies im unteren Bereich angedeutet. Bei genauem Hinsehen entdecken Sie viele Gitterstrukturen aus dunkler Farbe, die ich über den Untergrund gedruckt habe. Darunter liegt das Leben, das sich nicht entfalten kann. Die roten Punkte stehen für die Lebensflamme, das Temperament, die Begeisterung, das Talent. Die Flamme ist nur noch Glut. Aber jede Glut kann neu entfacht werden. Wie gut, wenn jemand Mut fasst und Schritte der Befreiung wagt. Dann kann Neues wachsen. Und plötzlich entsteht Luft, Freiraum, Dynamik. Etwas entwickelt sich. Es ist nicht von vornherein abzusehen, was daraus wird. Viele Überraschungen gehören dazu, auch Umwege und Fehlschläge. Dennoch: Die Dynamik entfaltet sich weiter. Dies zeige ich im mittleren Bereich meines Gemäldes.
Unser Leben darf zum Blühen kommen und frei sein. Wir leben das, was in uns gelegt ist. So können wir auch anderen am besten dienen. Dies ist meine Hoffnung. Und es ist auch meine eigene Erfahrung.
In den obersten Bereich des Bildes habe ich Goldglanz gelegt. Gold steht für das Göttliche. Wir sind Gott nahe, wenn wir aufblühen.
Ich wünsche Ihnen allen und Euch allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche.
Gabriele Koenigs
Der Liedermacher Gerhard Schöne hat ein Mutmachlied für Kinder geschrieben. Es tut auch uns Erwachsenen gut. "Alles muss klein beginnen...." Viel Freude beim Anhören und Mitsingen!
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