Aufgerichtet

aufgerichtet. Ölgemälde auf Leinwand von Gabriele Koenigs (2021). 50 cm x 50 cm.  Das Original ist verkäuflich.
aufgerichtet. Ölgemälde auf Leinwand von Gabriele Koenigs (2021). 50 cm x 50 cm. Das Original ist verkäuflich.

Roswitha ist Erzieherin. Sie liebt den Umgang mit Kindern. Sie ist verantwortungsvoll und ideenreich. Sie hat einige Jahre einen großen Kindergarten geleitet. In dieser Phase ihres Lebens machte sie jedoch sehr bittere Erfahrungen. Sie wurde systematisch gemobbt. Die Konflikte und der Kummer machten sie krank. Schließlich wurde sie arbeitsunfähig. Inzwischen ist sie Rentnerin. Sie hat sich damit arrangiert. Sie hat ihr Auskommen. Sie hat viel Zeit. Wegen der Krankheit ist sie regelmäßig in Behandlung. In therapeutischen Gesprächen hat sie einiges von ihrer Geschichte aufgearbeitet. Ihr Mann steht liebevoll zu ihr. Sie hat eine schönes Zuhause. Ihr erstes Enkelkind ist geboren. Alles wäre gut, wäre da nicht der bittere Nachgeschmack aus der letzten Berufsphase.

 

Vor einiger Zeit ist eine Familie aus Osteuropa im Nachbarhaus eingezogen. Sie haben ein kleines Mädchen, welches in der Entwicklung zurückgeblieben ist. Leni spricht nicht. Sie verständigt sich nur mit Lauten. Sie ist wild und meistens abweisend. Roswitha interessiert sich für das Kind und versucht, Kontakt aufzubauen. Sie hilft den Eltern bei den Behördengängen und beim Schriftverkehr, da ihre Sprachkenntnisse dafür noch nicht ausreichen. Sie gewinnt das Vertrauen von Lenis Eltern und hört sich ihre Sorgen an.

Am schlimmsten ist es mit dem Kindergarten. Leni kann sich nicht verständigen. Und sie kann nicht mit anderen Kindern umgehen. Sie nimmt sich das Spielzeug, das sie haben will, ohne Rücksicht darauf, wer sonst damit spielen will. Die anderen Kinder lehnen sie ab. Die Erzieherinnen wissen auch keinen Rat außer mit Leni zu schimpfen. „Das darfst du nicht!“ „Hör auf damit!“ „Sei doch endlich mal still!“ Leni schreit und tobt. Sie gibt zu erkennen, dass sie nicht mehr in den Kindergarten gehen will. Roswitha bietet an, ein paar Tage mitzugehen. Die Erzieherinnen sind dankbar für das Angebot. Sie sind mit diesem Kind komplett überfordert.

 

Inzwischen wurde festgestellt, dass Leni autistisch ist. Sie braucht besondere Förderung. Roswitha wurde gefragt, ob sie stundenweise als Integrationshilfe im Kindergarten mitarbeiten möchte. Dieses Angebot hat sie gerne angenommen. Sie durfte gleich an einer Fortbildung über Frühförderung für autistische Kinder teilnehmen. Nun ist sie an 3 Vormittagen im Kindergarten dabei und kümmert sich ganz gezielt um Leni. Und sie erklärt den anderen Kindern ihr unverständliches Verhalten. „Leni kann sich nicht euch in den Stuhlkreis setzen. Sie hält das einfach nicht aus. Schimpfen nutzt gar nichts. Das ist für euch sicherlich nicht so leicht, denn ihr müsst euch an die Regeln halten!“ Inzwischen haben die anderen Kinder in der Gruppe dies begriffen. Sie akzeptieren Leni in ihrer Andersartigkeit.

 

Am Nikolaustag standen alle Kinder im Kreis. Sie klatschten zu einem Nikolauslied. Leni schlüpfte durch eine Lücke, stellte sich mitten in den Kreis und tanzte dort zu der Musik. Die Kinder und die Erzieherinnen applaudierten, anstatt mit ihr zu schimpfen. Das war der schönste Moment, den Leni und Roswitha im Kindergarten erlebt haben.

 

Die Erzieherinnen in der Gruppe sind dankbar für alle Anregungen, die Roswitha ihnen gibt. Manchmal fragen sie sie auch wegen anderen Kindern um Rat. Sie ist ihnen eine hochgeschätzte Kollegin. Das tut Roswitha sehr gut. Die Bitterkeit weicht allmählich von ihr. Sie gewinnt ein Gefühl für ihren Wert und ihre Würde zurück. Sie ist überaus dankbar für diese Aufgabe, die ihr zugefallen ist. Sie nimmt das als Gottesgeschenk.

 

Gott schenkt uns Gelegenheiten zur Heilung und Versöhnung, solange wir leben. Sie kommen ungeplant, als Überraschung. Wir erkennen normalerweise nicht sofort, welche Chancen darinnen liegen. Wir sehen nicht, was sich daraus entwickeln kann. Manchmal denken wir, dass eine Wunde bleiben wird, solange wir leben. Manchmal denken wir, dass wir über einen Schmerz nicht hinwegkommen werden. Das muss nicht sein. Heilung kann geschehen. Dafür gibt es viel mehr Möglichkeiten, als wir uns vorstellen können.

 

Beim Nachdenken über Roswithas Geschichte wurde mir ein Bild geschenkt. Auf der Leinwand erschien eine Figur, die freudvoll aufgerichtet ist – trotz dem Dunklen, mit dem sie  konfrontiert ist. Sie hat Schmerz und Konflikte erlitten. Aber in ihrer Hand ist ein Stab, der sie stützt. Über ihr blinken die Sterne. Von oben scheint ein helles Licht zu ihr hin. Die Figur ist nicht ausgearbeitet. Sie ist nur angedeutet. Sie hat etwas Österliches. Was sehen Sie darin? Können Sie sich in diesem Bild finden?

 

Für mich ist dieses Bild ein Hoffnungsbild. Und Roswithas Geschichte ist eine Hoffnungsgeschichte. Ich bin dankbar, dass sie mir ihre Geschichte erzählt hat. Möge alles heil werden, was ihr noch weh tut. Möge das kleine Mädchen seinen Weg im Leben finden.

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs

  

  


Hier hören Sie den schönen Kanon "dona nobis pacem - gib uns deinen Frieden - von Menschen in vielerlei Sprachen gesungen. Viel Freude beim Anhören und Mitsingen! 

 

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