Aus heiterem Himmel

Sanfter Sieg des Lichtes. Aquarell von Gabriele Koenigs (2021). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 65 cm x 50 cm. Als Original erhältlich
Sanfter Sieg des Lichtes. Aquarell von Gabriele Koenigs (2021). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 65 cm x 50 cm. Als Original erhältlich

 

 

Eines Morgens brach ich mit meinem Mann früh zu einer Wanderung auf. Wir hatten alles dabei, was wir für eine Tageswanderung im Gebirge brauchten:  Bergstiefel, Stöcke, Trinkflasche, Vesper, Pflaster, Wanderkarte und Sonnencreme. Wir waren auf einen schönen Tag eingestellt und hatten eine weite Tour gewählt. Den Anstieg machten wir zu Fuß. Für den Abstieg wollten wir die letzte Bergbahn benutzen. Alles war gut geplant. Unsere Laune war bestens. Wir genossen die herrliche Bergwelt. Wir hörten Murmeltiere und freuten uns an der Alpenrosenblüte und an den freundlichen Begegnungen mit anderen Wanderern. Oft blieben wir stehen. Wir konnten uns gar nicht sattsehen. Über die Mittagszeit saßen wir gemütlich vor einer Berghütte und beobachteten von dort die waghalsigen Manöver derer, die in der Nähe auf einem Klettersteig unterwegs waren.

 

Plötzlich bezog sich der Himmel. Ein kalter Wind kam auf. Als wir unsere Rechnung bezahlten, sagte die freundliche Bedienung: „Da kommt bald ein großes Gewitter. Machen Sie zu, dass Sie rechtzeitig vom Berg hinunterkommen! Ein Gewitter hier oben kann sehr ungemütlich werden!“ Eilig brachen wir auf. Wir wählten den direktesten Weg. Auf dem Wegzeiger stand: 90 Minuten bis zur Bergstation. Wir gingen schnellen Schrittes. Es wurde immer düsterer und ungemütlicher. Der Wind wurde stärker. In der Ferne sah man schon das Wetterleuchten.  Ein heftiger Regen begann. Wir mussten uns sehr konzentrieren, dass wir nicht ausrutschten. Ich hatte Angst. Was wäre, wenn wir nicht rechtzeitig bis zur Bergbahn kämen? Was wäre, wenn ein Blitz uns träfe? In solchen Momenten schießen mir tausenderlei Gedanken durch den Kopf. Und zugleich weiß ich: Es nützt nichts, stehenzubleiben und zu jammern. Wir müssen weiter, so besonnen wie möglich, so zügig wie möglich. Der Pfad war eng und steil. Wir konnten nicht nebeneinander gehen. Mein Mann ging voraus. Ab und zu schaute er hinter sich, ob ich noch da bin. Als wir die halbe Strecke geschafft hatten, gab er mir ein paar Stückchen Traubenzucker und einen Schluck zu trinken. Wir waren inzwischen schon pudelnass und durchgefroren. Weit und breit waren keine anderen Leute zu sehen. Wir durften jetzt auf keinen Fall schlappmachen. Und wir durften auf keinen Fall stolpern und uns verletzen. Vor lauter Angst kamen mir ein paar Tränen. Mein Mann drückte mich fest. Dann mussten wir weiter. Inzwischen war das Gewitter über uns. Die Blitze zuckten, die Donnerschläge krachten und wurden vom Echo verstärkt. Ob wir uns jetzt am besten flach auf den Boden legen sollten? Aber wer weiß, wie lange das dauert? Bis dahin ist die letzte Bergbahn weggefahren. Wir gingen weiter, geduckt, mit eingezogenen Köpfen und hofften, dass die Blitze woanders einschlagen. Endlich erblickten wir von ferne die Bergstation. Der Weg wurde breiter. Nun konnten wir wenigstens nebeneinander gehen, Hand in Hand. Wir entspannten uns ein wenig. Immer näher kamen wir zum Ziel. Eine Viertelstunde vor der Abfahrtszeit der letzten Bahn waren wir dort.

Einige andere Wanderer waren auch schon angekommen. Alle waren pudelnass. Alle waren erleichtert. Es gab einen Unterstand. Ein Angestellter sagte: „Wir können jetzt nicht fahren. Im Moment ist es zu gefährlich. Wir warten noch.“ Weitere Wandersleute gesellten sich zu uns. Alle waren froh, die Bergbahn noch rechtzeitig erreicht zu haben.

Als das Gewitter weitergezogen war, fuhr die Bergbahn los. Allmählich verzogen sich die Wolken. Die Sonne kam wieder hindurch. Es wurde wärmer. Unsere Stimmung hellte sich auf. Zusammen lachten wir über den erbärmlichen Anblick, den wir einander boten. Nach einer heißen Dusche, in trockenen Kleidern und mit einem kräftigen Abendessen war die Welt wieder in Ordnung.

 

Diese angstvollen Stunden sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Seitdem sind schon mehr als 10 Jahre vergangen. Wie froh und dankbar waren wir, das überstanden zu haben, ohne Blitzschlag, ohne Absturz.

In jedem Menschenleben gibt es Stunden voller Angst. In jedem Menschenleben gibt es unerwartete Situationen, die alles von uns fordern. Meistens kommt so etwas „aus heiterem Himmel“, ohne Vorankündigung, ohne Vorbereitung. In solchen Zeiten wachsen wir über uns und über unsere Ängste hinaus, notgedrungen. Hinterher fragen wir uns manchmal: „Wie habe ich das bloß geschafft?“

 

Auch die neuartige Virusinfektion kam aus heiterem Himmel. Anfangs dachten wir noch, dass es ein Problem ist, mit dem die Chinesen zu kämpfen haben. Im Nu hatten wir das Problem auch in Europa. Unser Leben wurde völlig auf den Kopf gestellt. Wir sind durch viele Ängste gegangen. Wenn wir uns in zwei oder in zehn Jahren an die Zeit erinnern, die wir jetzt im Augenblick durchleben, werden wir uns auch fragen: „Wie haben wir das bloß geschafft?“ Wir werden dankbar sein, dass es überstanden ist. Wir werden dankbar sein für alle Hilfe, die wir bekommen haben. Und wir werden dankbar sein für alles, was wir gelernt haben. Wir werden noch lange davon erzählen. 

 

Ich wünsche Ihnen allen und euch allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs 

 

 

 

 


Der Jubilate-Chor singt das alte Kirchenlied: Harre, meine Seele, harre des Herrn. (Text von Friedrich Räder 1848). Sie finden das Lied im Evangelischen Gesangbuch. Viel Freude beim Anhören, Mitlesen und Mitsingen. 

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