Was ist nur in mich gefahren?

Augenweide. Aquarell von Gabriele Koenigs (2021). Als Original erhältlich
Augenweide. Aquarell von Gabriele Koenigs (2021). Als Original erhältlich

Es ist ein herrlicher Sommertag. Karin geht spazieren. Die Wiesen sind in schönster Blüte. Die Grillen zirpen, die Sonne wärmt angenehm. Welch ein Tag!!!!  Sie erinnert sich daran, wie gerne sie als kleines Mädchen Wiesenblumensträuße gepflückt hat. Das ist lange her. Sie sieht das Lächeln ihrer Großmutter vor sich, das Strahlen in ihren Augen, wenn sie ihr ein Sträußchen überreicht hat.  Die Wiesen sind nicht mehr so bunt wie früher. Es fliegen nicht mehr so viele Insekten. Vielen Wiesen sind zu Baugebieten geworden. Aber Karin kennt immer noch schöne Plätzchen.

 

Sie geht für ihr Leben gern spazieren.  Sie hört den Vögeln zu. Sie mag die vielerlei Düfte. Wenn sie die asphaltierten Straßen hinter sich hat, zieht sie sich die Schuhe aus und steckt sie in den Rucksack. Barfuß gehen – die warme Erde unter den Füßen spüren – so eng verbunden sein mit der Erde – wunderbar! Als Kind war sie meistens mit nackten Füßen unterwegs. Damals lebte sie auf einem Bauernhof. Es gab viel Arbeit, aber auch viel Freiheit und jeden Tag Hunderte von Abenteuern. Alle guten Erinnerungen kommen zurück, wenn sie barfuß geht.

 

Am Wegrand blüht roter Klatschmohn. Klatschmohn in Hülle und Fülle!!!! Es wird nicht schaden, wenn sie sich einen Strauß pflückt. Sie pflückt Blüte um Blüte. Es wird ein riesiger Strauß. Sie fügt einige Gräser hinzu. Welch ein Prachtstück von Strauß! „Diesen Strauß bringe ich meiner Freundin Andrea“, denkt sie. „Die wird Augen machen!“

 

Bald schon fällt das erste Blütenblatt ab, dann das nächste. Es ist ein weiter Weg bis zu Andrea. „Es ist so ein riesiger Strauß“, denkt Karin. „Etwas bleibt hoffentlich übrig für Andrea!“ Ihre Stimmung wandelt sich jetzt. Mit jedem fallenden Blütenblatt wird sie ein wenig nachdenklicher.  „Eigentlich hätte ich wissen können, dass Mohnblumen nicht für die Vase taugen!“ „Was ist nur in mich gefahren?“ „Mohnblumen sind am schönsten, wenn man sie an Ort und Stelle bewundert!“ „Dort hätten sie noch mindestens bis heute abend geblüht, und jemand anderes hätte sich auch darüber gefreut!“

 

Eine Stimme wispert ihr zu: „Lass dir das eine Lehre sein! Die Stimme klingt nicht streng oder böse. Sie klingt eher wie die Stimme einer weisen alten Frau. Andrea fragt: „Was soll ich heute lernen?“ „Sei behutsam mit dem Lebendigen“, antwortet die weise Stimme. „Das Leben ist zarter, als du denkst, und unverfügbar“.

Zwei Schwalben ziehen ihre Kreise über dem Feld. „Die Schwalben sind auch unverfügbar“, denkt Karin. Ich kann sie nicht fangen. Sie leben ihren eigenen Rhythmus. Der Wind ist auch unverfügbar. Die Sonne, der Regen, die Wolken…. Sie schaut sich um, aufmerksam wie ein Kind. Eine große Achtung vor dem Leben steigt in ihr auf. Sie hält inne. Sie spürt den Atem, der durch sie fließt. Auch das ist Leben, welches unverfügbar ist! Sie spürt die Ehrfurcht vor dem Leben und vor dem, der es geschaffen hat.

 

Soll sie nun noch bei Andrea vorbeigehen? Karin zögert. Der Strauß in ihrer Hand sieht wahrlich nicht ansehnlich aus. Und doch: Es wäre zu schön, die Freundin zu überraschen. Kurz vor Andreas Haus verkleinert sie den Strauß. Sie nimmt alle nackten Stiele heraus. Die Gräser sind übrig, und einige Stängel mit Mohnknospen. Sie überreicht ihn ihrer Freundin. „Ich erzähle dir nachher, warum der Strauß so dünn geworden ist!“  

Beim Kaffee trinken kommen sie in ein tiefes Gespräch. Karin sagt: „Jetzt bin ich schon so alt geworden. Und trotzdem passiert mir so etwas. Eigentlich weiß ich seit Kindertagen, dass Mohnblumen nicht zum Pflücken da sind!“ Andrea nickt. „Ich verstehe das. Mir passiert auch immer wieder so etwas Dummes. Ich dachte, ich hätte etwas schon lange kapiert. Und dann mache ich doch wieder den gleichen Mist. Ich schimpfe mich dann aus. Schlimmer, als meine Eltern mich früher ausgeschimpft haben. Strenger als jeder Lehrer von damals. Niemand hört dieses Schimpfen. Nur ich selbst.“

Behutsam legt Karin ihre Hand auf die Hand ihrer Freundin. Andreas Augen werden feucht. Beide sind still. Worte passen jetzt nicht.

Schließlich nimmt Karin ihren ganzen Mut zusammen und sagt: „Nur vergeben macht frei. Den anderen vergeben und uns selbst, immer wieder. Ich merke immer deutlicher, wie nötig das ist.“

Andrea nickt. „Danke, dass du das gesagt hast. Es ist wirklich wahr“.

Sie bleiben noch eine Weile zusammen. Sie haben einander immer viel zu erzählen. Sie brauchen einander nichts vormachen. Sie kennen einander so gut. Wie kostbar ist es, solch eine Freundin zu haben! Der Nachmittag vergeht im Flug.

„Nun muss ich aber wieder los“, sagt Karin. „Warte, ich gebe dir etwas mit!“ Andrea zieht eine Mohnknospe aus dem Strauß, den Karin mitgebracht hat. „Nimm sie mit und stell sie bei dir ins Wasser. Wenn sie morgen aufblüht, denke an mich. Und ich denke an dich, wenn ich meine Blüten sehe. Vielen Dank, dass du gekommen bist!“

 

Vergeben ist eine große Kraft. Ich weiß das schon immer. Seit Kindertagen lebe ich mit der Bitte aus dem Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Erst jetzt verstehe ich, dass es auch wichtig ist, mir selbst zu vergeben. Was nützt mir der göttliche Freispruch, wenn ich weiterhin mich selbst verurteile? Ich lerne, barmherzig zu sein gegenüber anderen und auch gegenüber mir selbst. So werde ich frei.

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alles wird gut. Geschichten und Gemälde von Gabriele Koenigs.

Das Buch erscheint Anfang Juni 2021. Es enthält 68 Innenseiten mit Geschichten und Gemälden. Die Gemälde und Geschichten sind überwiegend im Jahr 2021 entstanden. Es ist auf hochwertiges Bilderdruckpapier gedruckt. Es wird 19,50 € kosten. Bei Vorbestellung bis zum 15. Mai erhalten Sie es zum Sonderpreis von 18,00 €. 

 

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Der Liedermacher Eugen Eckert spielt und singt auf seinem Balkon das Lied "Meine engen Grenzen....". Dieses Lied, welches 1983 entstanden ist, bedeutet mir viel. Sie finden es im Evangelischen Gesangbuch. Viel Freude beim Zuhören und Mitsingen! 

 

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