Von einer fragwürdigen Redensart

Selbstbildnis mit Pusteblume. Aquarell von Gabriele Koenigs (2015). Unverkäuflich
Selbstbildnis mit Pusteblume. Aquarell von Gabriele Koenigs (2015). Unverkäuflich

 In meinem ersten Lebensjahr war ich schwer an Krebs erkrankt. Ein Tumor war auf meiner Lunge gewachsen und machte mir das Atmen schwer. Ich war wochenlang oder monatelang im Krankenhaus. So genau weiß ich das nicht, denn meine Eltern haben kaum über diese Zeit gesprochen. Ich musste mich mit ein paar wenigen Andeutungen begnügen.

 

Ich bin zwölf Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs geboren. Schweigen war damals die gängige Strategie, um das Vergangene loszulassen. Man schwieg auch über die erlebten Schrecken der Kriegszeit und die eigene Beteiligung an den Unrechtstaten der damaligen Zeit. Besser gar nicht mehr daran denken, sondern nur nach vorne schauen! Meine Eltern lebten nach der Devise: „Reden ist Silber. Schweigen ist Gold.“ Aber dieses Schweigen machte die Geschichten noch unheimlicher als sie waren. Ich hatte als Kind und Jugendliche viele Phantasien über meine Erkrankung und viele Phantasien über die Nazizeit. Darüber konnte ich mit niemandem in meiner Familie sprechen. So half mir auch niemand, zwischen Wahrheit und Phantasie zu unterscheiden.

 

Mein Vater fotografierte leidenschaftlich gerne. Ihm habe ich das Kinderfoto zu verdanken, auf dem ich mit einer Pusteblume beschäftigt bin. Offensichtlich liebte ich schon damals die Pusteblumen. Offensichtlich hatte ich mich zu dieser Zeit von der Erkrankung erholt. Ich wuchs und gedieh und eroberte mir das Leben. Ich holte Luft und steuerte das Ausatmen so, dass die kleinen Flieger der Pusteblume fortflogen. Gut, dass eine Bank da war, an der ich mich ein wenig festhalten konnte! Gut, dass mein lieber Vater mich gesehen hat und diese Erinnerung festgehalten hat. Aus seinem Foto habe ich vor einigen Jahren dieses Aquarell erschaffen. Es bedeutet mir viel.

 

Bald kommt die Zeit, in der wir die Pandemie überstanden haben. Wir werden das Masken tragen, das Abstand halten, die Isolation und vieles andere hinter uns lassen. Eine Freundin schrieb mir vor kurzem: „Wir werden diese Zeit bald in Liebe loslassen“. Welch eine schöne Vision!

 

Loslassen ist etwas anderes als totschweigen. Ich denke, dass es wichtig ist, hin und wieder über die erlebten Schrecken miteinander zu sprechen. Die Kinder brauchen das vielleicht besonders. Sie haben eine sehr seltsame Zeit erlebt, in der sie ihre Lehrerinnen und Lehrer kaum gesehen haben. Sie mussten ihr kindliches Bedürfnis nach körperlicher Nähe weitgehend unterdrücken. Sie mussten ihre Kontakte einschränken, obwohl ein Kind nichts anderes will, als den eigenen Radius stetig zu erweitern. Auch im Nachhinein wird es wichtig sein, dass wir ihnen helfen, diese Erfahrungen zu „verdauen“. Und dass wir anerkennen: „Ihr habt Großes geleistet in dieser Zeit!“ Großeltern werden hier eine besonders wichtige Aufgabe haben. Und es geht nicht nur um die Kinder. Wir alle müssen die Erfahrungen der letzten Monate „verdauen“. Natürlich machen wir vieles mit uns selbst ab. Diejenigen, die beten und meditieren, nehmen die Erfahrungen dort mit hinein. Das ist eine große Hilfe, ohne Frage. Dennoch: Es ist wichtig, dass wir auch miteinander reden. Gute Gespräche sind Gold wert!!!!! Helfen wir einander, diese Zeit zu „verdauen“. Wenn wir uns wieder begegnen, können wir einander fragen: „Wie ist es dir ergangen? Was hat diese Zeit mit dir gemacht? Hast du für dich wichtige Erkenntnisse gewonnen?“ Wir können einander Mitgefühl und Anerkennung bezeigen. So werden wir „in Liebe diese Zeit loslassen“.

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs

 

 


Vorankündigung: Bald erscheint mein neues Buch. Darin sind die Ermutigungen der letzten Monate in überarbeiteter Form enthalten. Sie können es gerne vorbestellen. Sofort nach Erscheinen sende ich Ihnen das Buch gegen Rechnung zu. 

Alles wird gut. Geschichten und Gemälde von Gabriele Koenigs.

Das Buch erscheint Anfang Juni 2021. Es enthält 68 Innenseiten mit Geschichten und Gemälden. Die Gemälde und Geschichten sind überwiegend im Jahr 2021 entstanden. Es ist auf hochwertiges Bilderdruckpapier gedruckt. Es hat einen festen Einband und ist mit Fadenheftung gebunden.  Es eignet sich als hochwertiges Geschenk.  

 

Bitte vermerken Sie bei Ihrer Bestellung, falls Sie eine Signatur oder eine persönliche Widmung wünschen.

19,50 €

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Hier kommt ein nachdenkliches Lied vom Reden und Schweigen zur rechten Zeit. Der Text stammt von Kurt Rommel aus dem Jahr 1965, die Melodie von Kurt Bischoff. Viel Freude beim Anhören!

 

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