Ein Lichtstrahl

Lichtstrahl aus der Ewigkeit . Ölgemälde auf Leinwand von Gabriele Koenigs (2021). 40 cm x 60 cm. Als Original erhältlich
Lichtstrahl aus der Ewigkeit . Ölgemälde auf Leinwand von Gabriele Koenigs (2021). 40 cm x 60 cm. Als Original erhältlich

An einem trüben Novembertag ist Michaela mit dem Auto unterwegs. Sie ist diese Strecke schon oft gefahren. Sie kennt hier jede gefährliche Stelle. Der Kreisverkehr am Ortsausgang ist solch eine gefährliche Stelle, an der schon oft Unfälle passiert sind. Sie ist eine vorsichtige Fahrerin. Aber an diesem Abend sieht sie zu spät, dass eine Fußgängerin dabei ist, direkt hinter dem Kreisverkehr die Straße zu überqueren. Sie versucht noch zu bremsen. Dennoch wird die Fußgängerin vom Auto erfasst. Es ist eine alte Frau. Sie fällt schwer zu Boden. Ersthelfer rufen sofort Hilfe herbei. Polizei und Krankenwagen sind bald zur Stelle. Die Verletzte wird in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht. Am nächsten Tag erfährt Michaela, dass die Frau schwer verletzt ist.

 

Wie konnte mir so etwas bloß passieren? Michaela ist im Schock. Was habe ich da angerichtet? Wird die alte Frau sterben? Wie kann ich damit leben, dass jemand wegen mir vielleicht sterben muss? Wie kann ich diese Schuld tragen? War ich unaufmerksam, mit meinen Gedanken woanders? Wie ist es bloß passiert, dass ich sie nicht gesehen habe? Was habe ich verkehrt gemacht? Lag es vielleicht daran, dass es dunkel war? Hätte ich noch rechtzeitig bremsen können? Fragen über Fragen. Michaela fühlt sich schuldig. Sie ist verzweifelt.

 

Bei einem Anruf durch die Polizei sagt ein Polizist zu ihr: „Sie dürfen keinen Kontakt zu der verletzten Frau aufnehmen. Die Angehörigen werden sich melden. Bitte warten sie das ab.“ Wie gerne wäre Michaela ins Krankenhaus gegangen, um sich nach der verletzten Frau zu erkundigen und ihr zu sagen, wie leid es ihr tut, dass dieser Unfall geschehen ist. Es ist furchtbar, dass sie das nicht darf. Sie weint viel. Die Schuld lastet schwer auf ihr. Ihr ganzes Leben lang war sie immer darauf bedacht, anderen zu helfen und Gutes zu tun. Und nun so etwas. Sie ist wie gelähmt. Zum Glück ist sie eingebunden in einen guten Familienzusammenhalt und einen großen Freundeskreis. Einigen von ihnen erzählt sie davon, was ihr passiert ist und wie es ihr jetzt geht. Es ist ihr ein Bedürfnis, dass sie wissen, was ihr passiert ist und wie sie sich jetzt fühlt. Sie führt Gespräche mit einer Pfarrerin und einem Psychologen. Sie braucht diese Gespräche unbedingt. Und sie braucht das Gebet. Vor Gott kann sie ihr Herz ausschütten. Gott verdammt sie nicht.

 

In den dunkelsten Stunden erinnert sie sich an einen Spruch, den ihre Mutter oft gesagt hat: „Gott ist barmherzig. Vergiss das nie!“

 

„Ich bete für dich und für die alte Frau“, sagen manche von ihren Freunden. „Gott steh dir bei in deiner schweren Zeit“, sagen andere. Sie bekommt Post und Nachrichten mit Trostworten. Sie muss das ganze Schlamassel nicht alleine aushalten. Andere stehen zu ihr. Das tut ihr sehr gut.

 

Die Pfarrerin sagt zu ihr: „Hier sind zwei Menschen verletzt worden. Nicht nur die alte Frau. Auch du bist verletzt durch das, was dir geschehen ist.“ Das ist ein neuer Gesichtspunkt. So hat Michaela das bisher noch nicht gesehen. Aber es ist wahr. Sie hat jetzt auch Schmerz zu durchleben. Sie ist wirklich selbst arm dran. Plötzlich kann sie so etwas wie Mitgefühl mit sich selbst fühlen, neben dem Schuldgefühl.

 

Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass Fußgänger an dieser Stelle die Vorfahrt der Autofahrer achten müssen. Das ist Michaela bisher noch nicht aufgefallen. Die Schuld liegt nicht eindeutig auf einer Seite. Beide sind daran beteiligt. Etwas in ihr hellt sich auf, als das klar wird.

 

An Weihnachten läutet das Telefon. Die Tochter der verletzten Frau ist dran. Sie erzählt, wie es ihrer Mutter geht. „Wir haben uns gewundert, dass Sie sich nicht gemeldet haben“, sagt sie. Michaela ist wie vor den Kopf geschlagen. „Ich hatte die Auskunft bekommen, dass ich mich nicht bei Ihnen melden darf!“ „Wie gerne hätte ich Kontakt aufgenommen! Ich habe immer wieder danach gefragt!“ „Das muss ein Missverständnis gewesen sein“, sagt die Tochter. Sie reden lange miteinander. „Darf ich Ihre Mutter besuchen“, fragt Michaela am Ende des Gesprächs. „Gerne!“ „Und wir bleiben in Kontakt!“.

 

Am nächsten Tag besucht Michaela die Patientin. Sie drückt aus, wie leid ihr alles tut. Beide weinen. Keine macht der anderen Vorwürfe. Es hilft Michaela sehr, dass sie einander nun endlich begegnet sind. „Wir wollen Ihnen nichts Böses“, sagen die Angehörigen. Sie legen keinen Wert auf einen Gerichtsprozess. Das Verfahren wird eingestellt. Dankbar erkundigt sich Michaela immer wieder nach dem Gesundheitszustand der Frau. Sie ist nicht mehr in Lebensgefahr. Es geht ihr allmählich besser.

 

Michaela fällt ein großer Stein vom Herzen. Was geschehen ist, kann sie nicht ungeschehen machen. Sie ist in Schuld verwickelt. Aber sie kann jetzt damit leben. Es wird ihr wieder leichter ums Herz, trotz allem.

 

„In diesem Bild sehe ich meine ganze Geschichte“, sagt Michaela eines Tages zu mir. Sie zeigt auf mein abstraktes Gemälde, dem ich den Titel „Lichtstrahl aus der Ewigkeit“ gegeben habe. „In der unteren linken Ecke ist die ganze Schwere, in der ich festgesteckt war. Aber Gott war auch ganz unten bei mir, hell leuchtend wie der Lichtstrahl, den du gemalt hast. Ich war nicht allein, niemals. Und jetzt hat sich etwas in mir gelichtet. Der Bereich, den du in gelb und orange gemalt hast, ist das, was ich jetzt fühle. Ich sehe bei dem Lichtstrahl einen ganz zarten Flügel. Das bedeutet mir auch viel. Er erzählt mir von Engelskräften und von Leichtigkeit. “ Sie wird nicht müde, das Bild anzuschauen und darüber nachzudenken.

 

Schuld gehört zum Menschenleben. Wir alle sind hier oder da in Schuld verwickelt. Wir müssen nicht daran zerbrechen. Wir können um Vergebung bitten, wo es nötig ist. Wir können anderen vergeben, was sie uns zu Leide getan haben, absichtlich oder unabsichtlich. Vergebung schafft Freiheit. Vergebung macht Raum für Neues. Vergebung lässt aufatmen. Durch Vergebung wird alles leichter.

 

Vorwürfe helfen nicht. Nur Vergebung hilft. Gott verdammt uns nicht. Warum sollten wir uns selbst oder andere verdammen? „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“, hat Jesus gesagt.

Solche Barmherzigkeit zu praktizieren ist eine Lebensaufgabe. Nicht nur für Michaela. Für uns alle. Immer wieder werden wir in Situationen geraten, in denen wir es lernen müssen. Immer wieder neu.

 

 

Dein Licht leuchtet. Du darfst aufatmen. Geh deine Wege und lerne Barmherzigkeit. 

 

 

 

P.S: Dies ist eine Kostprobe aus meinem neuen Buch. Es wird im Sommer fertig fertigen. Eine Freundin hat diese Geschichte genau so erlebt. Ich bin dankbar, dass sie sie mir erzählt hat und mir erlaubt hat, sie im Buch zu veröffentlichen. Und ich bin dankbar, dass ich jetzt wieder so gut bei Kräften bin, dass ich schreiben und malen und am Buch arbeiten kann! Es ist so herrlich, wieder tätig zu sein!!!!!

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs

 

 

 


Das "deutsche Requiem" von Brahms beginnt mit der Vertonung der ersten Seligpreisung. "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden."  Hier können Sie eine besondere Aufnahme hören, nicht mit großem Chor und Orchester, sondern von einem Kammermusikensemble. Unglaublich schön.... 

Viel Freude beim Anhören! 

 

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