Was hilft uns die Frage nach der Schuld?

Du bist nicht allein. Abstraktes Gemälde in Mischtechnik auf Leinwand von Gabriele Koenigs (2017). Als Kunstkarte erhältlich
Du bist nicht allein. Abstraktes Gemälde in Mischtechnik auf Leinwand von Gabriele Koenigs (2017). Als Kunstkarte erhältlich

Vor ein paar Tagen bin ich nach Italien gereist. Auf der Reise gab es viele Hindernisse. Die Bahn hatte eine Oberleitungsstörung kurz vor dem Gotthardtunnel. So mussten wir auf einem kleinen Bahnhof alle den Zug verlassen. Es waren Hunderte Menschen auf dem Bahnhof, aus mehreren Zügen. Aber es kam nur ein einziger Bus. Als es sich herausstellte, dass dieses Warten aussichtslos ist, fuhr ich zurück Richtung Zürich. Schließlich war der Schaden repariert und es ging wieder ein Zug. In Italien kam noch eine weitere  Störung hinzu. So hatte ich letztendlich mehr als 5 Stunden Verspätung. Mit dem allerletzten Zug kam ich kurz vor Mitternacht in der Toskana an. Meine Gastgeberin hat mir einen sehr großen Dienst erwiesen, als sie mit ihrem Auto durch die Nacht kam, um mich sicher in das Seminarhaus zu bringen, in dem ich jetzt für ein paar Tage sein darf. 

Wer ist dafür verantwortlich? Wer trägt die Schuld? So fragen wir oft, wenn etwas Unangenehmes oder Schlimmes passiert oder wenn uns etwas in die Quere kommt. Wir bilden uns ein, dass diese Frage hilft. Denn dann wissen wir wenigstens, gegen wen wir unseren Zorn richten können. Und wir wissen, wer eine Bestrafung verdient oder Schadensersatz leisten muss. Trotzdem wird gar nichts besser davon. Das Ereignis lässt sich nicht ungeschehen machen. Wir müssen hindurch.  Andere Fragen wären viel wichtiger. Zum Beispiel die Frage: Wie kann ich jetzt das Beste daraus machen? Was würde die Lage verbessern, für mich und für die anderen, die mitten in dem Schlamassel stecken? Kann ich auf irgendeine Weise Verantwortung übernehmen? Und wo finde ich Hilfe?

Nächste Woche ist die Karwoche. Wir gedenken des Leidens und Sterbens von Jesus Christus. Das übermächtige Thema, das sich mit diesen Ereignissen verbunden hat, ist auch hier die Frage nach der Schuld. Wer ist schuld? Sind es die Juden? Die Hohepriester? Die Pharisäer? Pilatus? Sind es die Menschen insgesamt? Oder bin ich vielleicht daran schuld? Haben meine Sünden mit seinem Tod zu tun? Ist Jesus wegen meinen Sünden gestorben?

Die älteste Deutung, die wir in der Bibel finden, sagt nur ganz knapp: Er ist um unsretwillen gestorben. Uns zugute, uns zuliebe. Ganz schnell wurde daraus: Er ist wegen uns gestorben. Wegen unseren Sünden. Eigentlich hätten wir Strafe verdient. Aber er hat die Strafe auf sich genommen, stellvertretend. Er hat sich geopfert, um den Zorn des göttlichen Vaters auf sich zu nehmen und wegzutragen.

Schon seit Kindertagen schaudert mich dieser Gedanke. Alles in mir sträubt sich dagegen. In manchen Passionsliedern wird dieser Gedanke auf grausamste Weise ausgemalt. Wenn ich diese Lieder mitsinge, wird mir ganz schlecht. Als ich noch Pfarrerin war, war es immer sehr schwierig für mich, einen Gottesdienst am Karfreitag zu gestalten. Ich wollte und konnte den Leuten nicht sagen, dass sie am Tod von Jesus schuld sind. Und ich wollte diese Lieder nicht singen. Ich bin sehr froh, dass ich nun keinen Karfreitagsgottesdienst mehr gestalten muss. Inzwischen verbringe ich den Karfreitag am liebsten im Schweigen, ganz alleine. Ich lasse mir sein Leid zu Herzen gehen. Unausweichlich begegne ich dabei auch dem Leid, das ich selbst schon getragen habe und das andere tragen. Ich möchte herausfinden, was es denn wirklich heißen könnte, dass Christus gestorben ist "uns zugute", um unsretwillen. Und ich lasse meine Gedanken und Empfindungen in ein Bild hineinfließen. So ist das Bild, das ich heute hier zeige, an einem Karfreitag entstanden. 

Sein Leid geht mir zu Herzen. Und nicht nur seines. So viele Menschen müssen durch unermessliches Leid hindurch, heute und auch in den Generationen vor uns. Es gibt eine Redewendung: "Jeder hat sein Päckchen zu tragen." Daran ist etwas wahres. Das Maß des Leidens ist unterschiedlich. Wie die Menschen damit umgehen, ist unterschiedlich. Und wie das Leid den einzelnen begegnet, ist auch unterschiedlich. Aber jeder Mensch wird von Leid betroffen, früher oder später, weniger oder mehr. Die Frage nach der Schuld hilft gar nicht weiter. Aufrichtiges Mitgefühl ist gefragt. Wie können wir einander so beistehen, dass wir nicht im Leid steckenbleiben, sondern hindurchkommen? Das ist für mich die wichtige Frage. Schon immer war es für mich wichtig, auf Ostern zuzugehen. Ostern ist ein neuer Beginn, ein Aufatmen nach dem Schmerz. Leben und Freude pur. 

 


Die Verbindung zu Christus ist tiefer und wahrer als die vielen Lehren, die sich im Lauf der Jahrhunderte mit seinem Namen verbunden haben. Wir brauchen etwas anderes jetzt. Etwas, das wirklich hilft in den Nöten unserer Zeit. Es ist Zeit für eine ernsthafte Suche. Ich möchte mich dieser Suche stellen, zusammen mit anderen, die auf diesem Wege sind.

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche

Gabriele Koenigs

 

 


Hier können Sie ein Lied des Mitgefühls hören. Sie hören die Komponistin dieses Liedes, die schwarze Sängerin Melanie deMore. Ihr Lied heißt: "I am sending you light..."  Übersetzt: Ich schicke dir Licht, dich zu heilen, dich zu halten. Ich schicke dir Licht, um dich in Liebe zu halten. 

 

Ich singe dieses Lied, wenn ich an eine schwerkranke Freundin oder andere Menschen denke, die Leid tragen. 

Die Sängerin Carien Wijnen hat eine deutsche Version dieses Liedes geschaffen. Hier ist eine Live-Aufnahme dieses Liedes aus einem Mitsingkonzert in Berlin. Viel Freude beim Anhören und Mitsingen! 

 

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