Aufrichtig

Offener Blick - offenes Herz. Kinderportrait (Auftragsarbeit) von Gabriele Koenigs (2022). Privatbesitz
Offener Blick - offenes Herz. Kinderportrait (Auftragsarbeit) von Gabriele Koenigs (2022). Privatbesitz

Als wir zur Welt gekommen sind, brachten wir mit uns die Fähigkeit zu fühlen. Niemand hat uns das beigebracht. Wir konnten das einfach. Wir fühlten Liebe, Angst, Sehnsucht nach Berührung, Hunger und Durst, Verzweiflung und Freude und vieles mehr. Aber bald begann die „Erziehung“. Wir lernten, dass manche Gefühle unerwünscht sind. Wir lernten, sie nicht zu zeigen, um nicht die Erwachsenen zu verärgern, die sich um uns kümmerten. Wir lernten, sie zu unterdrücken. Manchmal ging es so weit, dass wir sie nicht einmal mehr gefühlt haben.

„Mach nicht so ein ärgerliches Gesicht!“ „Hör endlich auf mit dem Weinen!“ „Nimm deine Hände da weg! Da fasst man sich nicht an! “ „Sei nicht so albern!“ „Reiß dich zusammen!“ „Gib nicht immer deinen Senf dazu!“ "Sei nicht so eine Heulsuse!" Wir alle haben solche und ähnliche Ermahnungen gehört. So nisteten sich Urteile in uns ein. Ich bin nicht okay, wie ich bin. Ich bin zu schlecht. Ich bin zu dumm. Ich bin eine Sünderin. Ich bin ein Versager. Ich tauge nichts. Scham hat uns ergriffen. Wir haben sie nicht mit auf die Welt gebracht. Sie wurde uns eingetrichtert. Dabei haben die Erwachsenen es nicht einmal böse gemeint. Sie haben weitergegeben, was sie selbst gelernt haben.

 

Meine Eltern sind in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen. In dieser Zeit war es hochgefährlich, die eigene Meinung zu sagen und die eigenen Gefühle zu zeigen. Im Handumdrehen konnte man dafür im Zuchthaus und oder Konzentrationslager landen. Sie und ihre Zeitgenossen haben intensiv gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie haben das an ihre Nachkommen weitergegeben, wahrscheinlich meistens unbewusst.

 

Kinder sind offen für das Leben. Sie beobachten aufmerksam. Sie lernen schnell. Sie spüren ganz fein, wie sie sich anpassen müssen, um zu überleben. Sie sind auf die Erwachsenen angewiesen. Sie müssen alles tun, um deren Gunst nicht zu verlieren.

 

Als Erwachsene haben wir eine neue Chance. Die Fähigkeit zu fühlen ist immer noch da. Niemand kann uns das jemals nehmen. Manche von uns nützen die Chance. Wir nehmen den Ärger wahr, wenn er in uns auftaucht. Wir versuchen hinzuhören, was er uns zeigt. Wir nehmen die Traurigkeit wahr. Wir nehmen sie ernst. Wir wischen sie nicht einfach weg. Wir fühlen die Freude. Wir drücken sie aus. Wir kommen aufs Neue in Kontakt mit der Fülle des Lebens. Niemand kann uns dies jetzt mehr verbieten. Welch unermessliche Fülle ist uns gegeben, von Tag zu Tag, in jedem Augenblick!!!!! Wir lernen hinzuschauen und hinzuhören. Wir lernen, sie anzunehmen. Und so lernen wir, uns selbst anzunehmen, mit allem, was da ist, ohne Verurteilung, ohne Scham. Wir werden aufrichtig. Dies ist ein Heilungsweg. Wir gehen ihn Schritt für Schritt.

 

In der vergangenen Woche habe ich einen Malkurs gegeben. Es war eine sehr nette Gruppe. Wir hatten es richtig gut miteinander. Die Bilder sind schön geworden. Dennoch hat eine Teilnehmerin am Ende des dritten Tages gesagt: "Ich fahre jetzt lieber nach Hause. Mir wird das alles zu anstrengend. Ich bin es nicht gewöhnt, so lange unter fremden Leuten zu sein, weg von zuhause. Und ich habe einige gesundheitliche Probleme. Ich habe mich einfach übernommen. Nehmt es mir nicht übel. Aber für mich ist es besser, nachhause zu fahren."

 

Es zeugte von menschlicher Größe, dass sie überhaupt nicht versucht hat, jemandem von uns die Schuld dafür zu geben. Und es zeugte auch von menschlicher Größe, dass sie nicht versucht hat, ihr Gefühl von Überforderung zu verbergen. Sie ist zu sich selbst gestanden, und wir haben in gegenseitiger Achtung voneinander Abschied genommen. Dies war für mich und für die ganze Gruppe eine eindrückliche Erfahrung.

 

Gott ist uns nahe. Heute. Jetzt. Nicht erst dann, wenn ich ein besserer Mensch geworden bin. Nicht erst dann, wenn die anderen bessere Menschen geworden sind. Mitten in allen Rätseln und Unvollkommenheiten. Mitten im Scheitern und mitten im Gelingen. Schritt für Schritt wachse ich in dieses Vertrauen hinein. Ich werde aufrichtig. Und ich freue mich des Lebens.

 

Ich wünsche euch allen und Ihnen allen einen schönen Sonntag und eine gute Woche. Und den Freundinnen und Freunden aus der orthodoxen Christenheit frohe Ostern!!!!

Gabriele Koenigs


Hier kommt ein Lied der deutschen Liedermacherin Bettina Wegner, die in der DDR gelebt hat. Eine historische Aufnahme von 1978! Viel Freude beim Anhören! 

 

Und hier kommt ein Lied des Liedermachers Leonhard Cohen. Es ist die Bitte um Heilung, nicht nur des Körpers, sondern auch von Geist und Seele. 

 

Ja, es ist ein großer Heilungsweg, und er ist nicht im Handumdrehen zu schaffen. Möge Gottes Geist uns beistehen, Tag für Tag! 

 

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