Auf dem Weg zum Garten der Geheimnisse

Blaues Wunder. Aquarell von Gabriele Koenigs (2020). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 40 cm x 50 cm. Als Original erhältlich
Blaues Wunder. Aquarell von Gabriele Koenigs (2020). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 40 cm x 50 cm. Als Original erhältlich

„Wir empfehlen Ihnen heute, den Garten der Geheimnisse zu besuchen.“ Als wir diesen Tipp auf unserem Frühstückstisch im Hotel fanden, war sofort klar: Ja, das machen wir. Mein Mann und ich verbringen gerade eine Ferienwoche an der Donau. Mit unseren E-Bikes sind wir jeden Tag unterwegs.

 

Wir machten uns am frühen Nachmittag auf den Weg. Es war ein sehr heißer Tag. Die Sonne brannte vom Himmel. Wir wussten, dass es ungefähr 50 km pro Strecke sein würden, und dass eine starke Steigung dabei ist. Aber der Name dieses Gartens klang so verlockend, dass wir die Anstrengung gerne in Kauf nahmen. Wir fuhren meistens an der Donau entlang und genossen ab und zu ein kühles Lüftchen vom Fluss her und Schatten durch die Bäume am Weg. Unterwegs trafen wir ein besonderes Paar. Er war mit dem elektrischen Rollstuhl unterwegs, sie fuhr mit dem Fahrrad nebenher. Wir unterhielten uns ein Weilchen. Sie sind öfter hier und kennen besondere Stellen. Sie zeigten uns eine Äskulapnatter, die zusammengerollt in einer Mauerritze lag. Wahrlich ein schönes Tier! Als wir durch ein kleines Städtchen fuhren, genossen wir das „wahrscheinlich beste Eis Österreichs“. Ein Traum! Bis dahin war der Weg klar gewesen, aber nun wurde es immer komplizierter. Der „Garten der Geheimnisse“ liegt ganz abseits von den Routen, die auf den Karten und Wegweisern gezeigt werden. Wir hatten kein Handy dabei und waren darauf angewiesen, uns durchzufragen. Jemand zeigte zu einer Burgruine, die hoch über der Landschaft thronte. „Dort oben müssen Sie hinauf, dann ist es nicht mehr weit. Das schaffen Sie mit Ihren E-Bikes. Und dort oben müssen Sie einfach wieder jemand fragen, dann finden Sie den Garten.“ Wir fuhren ein Stück weit in diese Richtung. Aber dann wurde uns klar: Es ist einfach zu weit. Wir schaffen das heute nicht mehr. Wir müssen vor der Dunkelheit zurück sein. So schade, aber es hat einfach keinen Sinn! Ein bisschen enttäuscht kehrten wir um.

 

Im nächsten Dorf hing eine Informationstafel an einer großen alten Mauer. Hinter der Mauer liegt ein Franziskanerkloster. Das Tor stand offen. Wir lasen, dass die Mönche den Garten an die Gemeinde abgegeben haben. Er wird nun von Ehrenamtlichen gepflegt und ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Wir traten ein, auf der Suche nach einem schattigen Platz, auf dem wir uns ein wenig ausruhen konnten. Was wir dort fanden, war überwältigend. Eine uralte Gartenanlage, im Rondell angelegt und mit Buchsbaumhecken gegliedert. Im Zentrum steht ein Springbrunnen. Heilpflanzen, Kräuter, Gemüse und Blumen wachsen friedlich beieinander. Alle Pflanzen sind mit Schildchen gekennzeichnet. Wir kennen wahrlich viele Pflanzen, aber hier sahen wir auch solche, die uns gänzlich unbekannt sind: Den Alant zum Beispiel, eine Heilpflanze, die mehr als mannshoch emporwächst. Jemand mit Sinn für Humor hat Schildchen mit Sinnsprüchen zwischen die Blumen gesteckt. Auf einem steht: „Narren hasten. Kluge warten. Weise gehen in den Garten.“ Wir zeigten einander, was wir entdeckten, und genossen die Ruhe. Wir fanden frisches Wasser, um unsere Trinkflaschen zu füllen, und ein paar reife Himbeeren. So viel Schönheit, so viel Frieden, so viel Gutes bot sich dar. Einfach überwältigend!

 

Gut ausgeruht machten wir uns auf den Heimweg. Inzwischen war es ein wenig abgekühlt. Der Heimweg war lange nicht so anstrengend. Wir fuhren schnell. Aus lauter Übermut überholten wir ein Frachtschiff, das stromaufwärts fuhr und ließen es immer weiter hinter uns. Einmal hielten wir an, als ich einen Biber entdeckt hatte. Wir schauten ihm eine Weile zu und amüsierten uns über den Purzelbaum, den er im Wasser schlug. Er wirkte ebenso vergnügt wie wir. Nach vielen Kilometern sahen wir plötzlich das Paar, dem wir ein paar Stunden vorher begegnet waren. Die Frau saß jetzt auf einer Bank. Ihr Partner im Rollstuhl saß neben ihr. Wir freuten uns an dem unverhofften Wiedersehen. „Setzen Sie sich doch eine Weile zu uns“, sagte der Mann im Rollstuhl. „Viel Zeit haben wir nicht mehr“, sagten wir. „Wir müssen um 20 Uhr zurück im Hotel sein. Aber ein Weilchen geht schon noch!“ Er erzählte uns von dem Verkehrsunfall, den er als 16 jähriger erlitten hatte. Seither ist sein Körper gelähmt. Er kann nur den Kopf bewegen. Aber seine Augen sind schön und voller Leben und Ausdruck. Das fiel mir besonders auf. „Das ist nur im Sommer so, wenn ich viel nach draußen kann“, sagte er. „Im Winter, wenn ich drinnen eingesperrt bin, geht es mir ganz schlecht“. Seine Partnerin bestätigte: „Im Winter sehen seine Augen grau aus und wie erloschen.“ Wir hätten noch stundenlang beieinandersitzen können. Die Begegnung mit den beiden war interessant und voll gegenseitigem Wohlwollen. Während wir beieinander saßen, zog das Frachtschiff, das wir überholt hatten, an uns vorbei. Schließlich fuhren auch wir wieder los. In rasender Fahrt erreichten wir zehn Minuten vor der Schließung der Fahrradgarage unser Hotel.

 

Das Ziel, das wir eigentlich hatten erreichen wollen, haben wir nicht erreicht. Aber auf dem Weg wurden wir mit viel Schönem und Überraschendem beschenkt. Mehr haben wir gar nicht gebraucht. Wir sind dankbar dafür. Und wir empfinden die Erfahrung dieses Tages wie ein großes Gleichnis.

Am Ende unserer Tage werden wir in den himmlischen Garten eintreten. Wir werden dort schon erwartet. Wir werden dort willkommen sein. Jetzt ist es noch nicht die Zeit dafür. Jetzt ist die Zeit für die Entdeckungen am Wege. Jetzt ist Zeit für Offenheit, für Staunen, für Begegnungen in gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Interesse. Jetzt ist Zeit, um füreinander da zu sein und einander zu lieben.

 

Ich grüße Sie alle und Euch alle sehr herzlich aus den Ferien und wünsche Ihnen und Euch einen schönen Sonntag und eine gute Woche. 

 

Gabriele Koenigs 

 

 

 

 


Mein neues Buch ist während unserem Urlaub aus der Druckerei gekommen. Wenn ich nächste Woche zuhause bin, werde ich es denen zuschicken, die das Buch vorbestellt haben. Sie können sich schon darauf freuen. Und ich bin richtig gespannt, wie es Ihnen gefällt. So viel vorab: Es gibt ein  Stilelement darinnen, das in den bisherigen Büchern noch nicht war. Sie finden es am Ende jeder Geschichte in diesem Buch. Lassen Sie sich davon überraschen und anregen! 

 


Hier finden Sie den Choral "Die güldne Sonne..." zum Anhören oder Mitsingen, wie Sie mögen. Viel Freude dabei! 

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