Diese Woche sah ich ein kleines Mädchen auf dem Heimweg von der Einschulung. Sie sah fröhlich aus. Sie trug einen bunten Schulranzen auf dem Rücken. Ein kleines Geschwisterchen war auch dabei, und einige Erwachsene. Die Schultüte hatten sie in der Kinderwagen gelegt. Vermutlich war sie viel zu schwer, um sie lange zu tragen. Diese kleine Szene weckte viele Erinnerungen in mir. Lang, lang ist's her, da gestaltete ich Schulanfangsgottesdienste. Jedes Kind bekam den Segen. Das war jedes Mal ergreifend schön. Noch länger ist es her, dass unsere Pflegekinder eingeschult wurden. Wie aufgeregt waren sie, und wir noch viel mehr. Es war ein großer Neuanfang für sie und für uns. Noch länger ist es her, dass ich selbst in die Schule kam. Seltsamerweise habe ich daran gar keine Erinnerungen.
Im Allgemeinen kommen Kinder mit einem riesigen Lerneifer in die Schule. Manche fangen sogar schon vorher an, Lesen und Schreiben zu lernen. Sie können es kaum erwarten. Sie sind stolz über alles, was sie begreifen und entdecken. Sie wollen beweisen, wie groß und wie klug sie schon sind. Sie wollen über sich hinauswachsen.
Dieses Bedürfnis bleibt in uns, solange wir leben. Wir wollen weiterlernen. Es ist auch notwendig. Jedes neue Auto hat Funktionen, die wir bisher nicht kannten. Wir müssen umlernen. Wir lernen neue Geräte bedienen. Wir lernen Sprachen. Wir lernen, uns im Internet zurechtzufinden. Wir machen Ausbildungen und Fortbildungen für unsere Berufstätigkeit. Wir lernen auch für unsere Hobbies und unsere persönliche Weiterentwicklung. Wir lernen, solange wir leben.
Meine Frauenärztin hält freitags ihre Praxis geschlossen, weil sie Musikstunden nimmt. Sie spielt Bratsche. Sie genießt es, sich neue Werke zu erschließen und zusammen mit ihrem Orchester aufzuführen.
Immer wieder kommen Frauen und Männer zu mir in die Malkurse. Manche von meinen Malschülerinnen sind schon älter als 80 Jahre. Sie kommen mit Begeisterung. Sie genießen es, neue Bekanntschaften mit Gleichgesinnten zu schließen und ihre Fähigkeiten zu erweitern. Wenn neue Bilder fertig sind, zeigen sie sie mit Stolz herum, rahmen sie und hängen sie in ihre Wohnung.
Ich mache gerade einen Kurs in gewaltfreier Kommunikation. Bisher wusste ich nur ganz wenig darüber. Nun vertiefe ich mich. Ich achte auf Urteile und Abwertungen, die sich in die Sprache einschleichen. Ich übe, sie zu vermeiden. Es ist gar nicht so einfach. Aber ich bin froh, das üben zu können.
Das Leben stellt uns immer vor neue Herausforderungen. Wir landen in Situationen, die wir bisher nicht kannten. Wir müssen lernen, uns dort zurechtzufinden.
Eine Frau erzählte mir davon, dass ihr Mann sehr krank geworden ist. Er kann nur noch ganz wenig selbstständig machen. Nun muss sie lernen, seine Bedürfnisse zu verstehen und ihn gut zu unterstützen. Gleichzeitig ist es auch nötig, dass sie Selbstfürsorge lernt. Bisher ist dies eher ein Fremdwort für sie gewesen. Aber nun muss sie dringend nach sich selbst schauen, damit sie nicht bitter und hart wird vor lauter Überforderung. Und sie muss lernen, ihre Bitten auszusprechen. "Könntest du bitte den Tisch decken?" "Nimmst du mich bitte mal in den Arm?" "Könntest du mir bitte dieses Telefongespräch abnehmen?" Es ist ja nicht so, dass er gar nichts mehr kann. Er ist nur so sehr mit sich beschäftigt, dass er nicht von selbst merkt, was sie braucht. Es ist nötig, dass sie ihn bittet. "Ich habe gedacht, dass er das von selber merkt", sagte sie. "Ich bin immer wieder enttäuscht, dass er es nicht tut." "Er kann das wohl zur Zeit nicht", antwortete ich. "Probieren Sie, ihm ganz klar zu sagen, was Sie brauchen, und vielleicht auch, warum etwas für Sie wichtig ist." Sie nickte. "Er macht sich ja im Grunde gerne nützlich", sagte sie. "Es tut ihm gut, wenn er auch etwas beitragen kann." In ihre Augen kam ein Glanz, der vorher nicht zu sehen war.
"Etwas möchte ich Ihnen noch ans Herz legen", sagte ich. "Fordern Sie nichts! Forderungen rufen meistens entweder Trotz oder Unterwerfung hervor. Beides passt nicht zu einer liebevollen Beziehung. Forderungen kommen aus einem Machtgefälle. Bitten dagegen sind sanfter. Sie kommen aus Liebe. Sie respektieren die Freiheit des anderen. Er kann Ja sagen oder Nein. Beides ist möglich. Und vielleicht hat er einen anderen Vorschlag als Sie! Vielleicht sagt er, dass etwas nicht gleich geht, sondern später..."
Sie hat bisher über diesen Unterschied noch nicht nachgedacht. Aber nun hat sie es verstanden. Sie wird es üben. Und es wird wahrscheinlich nicht von heute auf morgen klappen. Es ist eine Übungssache. Alles muss geübt werden, so wie das ABC und das Kleine Einmaleins.
Es ist eine große Lernaufgabe für beide, mit dieser neuen Situation umzugehen. Aber sie wachsen daran. Manchmal wirkt alles wie ein Berg, der sich unermesslich hoch auftürmt. Aber ab und zu gibt es doch etwas zu feiern. "Das haben wir gut miteinander hinbekommen!" "Wir haben es geschafft!" "Ich liebe dich!" "Gut, dass wir einander haben!"
Wir lernen, so lange wir leben. Wir sind in der Schule des Lebens. Und die Rollen sind nicht so klar verteilt wie früher. Hier die Lehrerin, dort die Schüler: So ist es nicht mehr, wenn wir erwachsen sind. Wir lernen und wir lehren. Wir geben weiter, was wir gelernt und erkannt haben. Wir fragen einander. Wir bitten um Rat und Hilfe und um ein offenes Ohr. Wir bitten um Kraft und Weisheit von oben. Wir stehen dazu, dass wir vieles nicht wissen und nicht können. Und wir sind froh, wenn wir wieder etwas gelernt haben und über uns hinausgewachsen sind. Schrittchen für Schrittchen. Gar nicht so viel anders als ein Kind.
Alles Liebe und Gute für Sie und für euch!
Gabriele Koenigs
Hier können Sie ein Lied von Manfred Siebald hören. Es ist ein gesungenes Gebet. "Gib mir die richtigen Worte, gib mir den richtigen Ton..." Viel Freude beim Anhören!
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Harald (Montag, 16 September 2024)
"Man lernt nie aus" pflegte mein Vater immer zu sagen, wenn er Neues erfahren hat. Leider ist er schon im Jahr 1997 gestorben, in einem Alter in dem ich nun bin. Und was soll ich sagen, ich lerne immer noch und gerne. Ich war nie ein guter Schüler. Aber ich war und bin immer neugierig und lerne gerne Menschen mit ihren ureigenen Fähigkeiten kennen. Und lerne von ihnen.
Danke Gabriele für den erneuten wunderbaren Impuls den du uns und speziell mir diese Woche wieder geschenkt hast.
Ich grüße Sie alle von Herzen
Harald Schnabel