Die Weisheit in uns

Oma Seel hält die kleine Nora auf dem Arm. Immer wieder tastet sie das kleine Gesichtchen ab. Sie ist im hohen Alter erblindet. Aber sie nimmt voller Interesse am Leben teil. Nora, ihr erstes Urenkelkind, ist ihre große Freude. "Du bist schon so gewachsen seit dem letzten Mal, als du hier warst", sagt sie. "Dein Stupsnäschen ist größer geworden. Und wie schön deine Lippen sind!" Immer wieder fährt sie zärtlich mit ihren Fingern an den Lippen des Mädchens entlang. Nora juchzt. Sie strampelt mit den kleinen Füßen und Händchen. Sie berührt das Gesicht von Oma. Oma genießt das von ganzem Herzen. Sie nimmt das kleine Händchen des Kindes und führt es an ihrer Wange entlang. 

Susanne schaut dieser innigen Kommunikation fasziniert zu. Stundenlang könnte sie so sinnieren und schauen. Ihre Tochter kommt mit einem Tablett aus der Küche. "Schau, wie innig diese beiden miteinander sind", sagt Susanne. Annette nickt. Sie deckt den Tisch und setzt sich dann zu ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer kleinen Tochter. Sie nimmt das Baby nun selbst auf den Arm.  

"Wisst ihr eigentlich, warum wir Menschen ein Grübchen über den Lippen haben", fragt Susanne. Oma sagt: "Wahrscheinlich, weil es so hübsch aussieht! Es steht uns so gut, besonders den Mädchen". Annette sagt: "Wahrscheinlich hat es irgendwelche anatomischen Gründe  mit der Funktion des Kiefers. Susanne sagt: "Ich habe eine wunderschöne Legende gelesen. Sie stammt aus der mystischen Tradition der Juden. Wollt ihr sie hören?" "Aber ja doch", sagt Oma. Annette nickt auch. 

Susanne erzählt. "Wenn ein Menschenkind im Leib seiner Mutter zum Leben heranreift, ist es nicht allein. Ein Engel ist immer bei ihm. Er erzählt ihm alle Geheimnisse von Himmel und Erde. Alles, was wichtig ist für ein Menschenkind. Er flüstert ihm große Worte zu: Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden.  Er tut das so oft, bis sie fest im Herzen des Menschenkindes verankert sind. Und er erzählt dem Menschenkind, was Gott mit ihm vorhat. Kurz vor der Geburt nimmt er Abschied vom Kind. Er legt ihm den Finger auf den Mund und verpflichtet es zum Schweigen. Das Kind soll nicht ausplaudern, was es gelernt hat. Es ist kostbar und heilig. Das Kind soll erst im Lauf seines Lebens allmählich die Wahrheit erkennen und auch darüber sprechen. Wenn das Kind zur Welt kommt, kann es darum nicht sprechen. Aber wir sehen an den großen wissenden Kinderaugen, dass es sehr viel Weisheit im Herzen trägt. Und wir sehen die Stelle, wo der Finger des Engels lag. Es ist das kleine Grübchen über der Oberlippe. Alle Menschen haben das. Denn zu allen hat ein Engel gesprochen."  

Oma fasst nun nach ihrer eigenen Lippe. "Ja, da ist es wirklich, auch bei mir! Darf ich eure Lippen auch mal fühlen?" Susanne streckt ihr Gesicht zu Oma hin. Annette tut es auch. Liebevoll streicht Oma ihrer Schwiegertochter und ihrer Enkelin über die Lippen, und dann auch nochmals der kleinen Nora. 

Nora wird eine junge Schönheit. Und sie ist nachdenklich und klug. Eines Abends erzählt Annette ihr die Legende vom Engel im Mutterleib und von der Stelle, wo sein Finger in ihrem Gesicht geruht hat. Und sie erzählt ihr von Oma Seel. "Oma hat so gerne deine schönen Lippen berührt", sagt Annette. "Sie hat dich so sehr geliebt!" Nora kuschelt sich an ihre Mutter. Mit dem Finger berührt sie ihre Lippen und auch die von Annette. "Ich will alles herausfinden, was der Engel mir gesagt hat!" Annette drückt sie fest. Sie sagt: "Das ist ein guter Vorsatz. Das würde Oma auch gefallen!" 

Wir alle tragen Weisheit und Wahrheit in uns, und die Sehnsucht, unseren Weg zu finden. Um uns sehen wir in dieser schwierigen Weltsituation so viel Hass, Gewalt und Ratlosigkeit. Und es sind keine Menschen da,  die mit einer glaubhaften Autorität führen können, weder in der Kirche noch in der Politik. Manche treten als Verführer auf und haben die angeblich einfachen Lösungen. Trauen wir ihnen nicht! Trauen wir auf die Weisheit und Wahrheit, die in unserem Herzen wohnt. 

Alles Liebe und Gute für Sie und für euch! 
Gabriele Koenigs