Endlich frei

endlich frei. Aquarell von Gabriele Koenigs (2023). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 70 cm x 50 cm. Als Original und als Kunstkarte erhältich.
endlich frei. Aquarell von Gabriele Koenigs (2023). Im Passepartout für Bilderrahmengröße 70 cm x 50 cm. Als Original und als Kunstkarte erhältich.

Monika ist wie ein neuer Mensch. Befreit, erleichtert, gelöst und heiter. Ich staune. Ich kenne sie schon länger. Sie liegt mir am Herzen. Ich mag sie sehr. „Was ist passiert?“, frage ich. Sie erzählt.

 

Ihr Leben lang hatte sie Angst vor ihren Eltern. Diese Angst lag über ihr wie ein Bann. Beide Eltern sind unvorstellbar grausam zu ihren Kindern gewesen, von Anfang an. Der Vater hat rohe Gewalt ausgeübt. Er hat seine Tochter immer wieder vergewaltigt. Und er hat sie zusätzlich an andere Männer verkauft, die sich an ihr vergingen.  Die Mutter ist nicht dagegen eingeschritten. Sie war Mittäterin. Sie hat Monika festgehalten, damit sie sich nicht wehren konnte, und hat sie darüber hinaus mit erniedrigenden Worten gequält. Keins der beiden Kinder hat die Eltern angezeigt. Aber sie wollen keinen Kontakt mehr. Monikas Bruder ist weit weggezogen. Er will den Eltern keinesfalls mehr begegnen. Er hat Brandwunden im Genitalbereich davongetragen. Die Narben erinnern ihn tagtäglich an die Gewalt im Elternhaus.

 

Monika lebt gar nicht so weit von den Eltern entfernt. Mit dem Bus ist es nur eine kurze Strecke von 15 Minuten bis zu ihrem Elternhaus. Sie hat geheiratet und hat erwachsene Kinder. Sie ist eine gestandene Frau. Trotzdem hat sie bisher jedes Mal Angst gehabt, wenn sie aus dem Haus ging. Sie hat immer um sich geschaut, ob nicht irgendwo der Vater oder die Mutter lauert. Nur die Vorstellung, ihnen begegnen zu müssen, war schon wie ein Damoklesschwert über ihr. Ihr Mann und ihre Kinder wissen gar nicht, was ihr zugestoßen ist. Sie hat ihnen nichts erzählt. Sie wollte ihre Eltern nicht bloßstellen. Und sie wollte auch nicht, dass ihr Ehemann in eine Konfrontation mit ihrem Vater gerät, bei der möglicherweise neue Gewalt ins Spiel kommt. Sie verabscheut Gewalt. Sie ist sanft. Sie sehnt sich immer nach Harmonie. Aber der Druck, der auf ihr lastet, war beinahe unerträglich. Sie brauchte jemanden, um über alles zu reden, was ihr zugestoßen ist.

 

Mit einer Pfarrerin fing ihre Heilung an. Ihr hat sie sich im Seelsorgegespräch anvertraut. Es war ein riesengroßer Schritt für sie, zum ersten Mal im Leben über das Grauenvolle zu sprechen. Die Pfarrerin erkannte bald, dass Monika mehr braucht als nur ein gelegentliches Seelsorgegespräch. Sie erzählte ihr von dem Verein „Wildwasser“, der sich für sexuell misshandelte Frauen und Kinder einsetzt. Monika nahm Kontakt auf. Bald bekam sie das erste Gespräch mit einer dort tätigen Therapeutin. Sie fasste Vertrauen. Es wurde deutlich, dass ihr Heilungsweg viel Zeit braucht. Monika bekam einen Langzeittherapieplatz. Ihr hat es gutgetan[, zu wissen: Ich brauche mich nicht beeilen. Ich darf so oft kommen, wie es nötig ist. Ich darf weinen und lachen. Ich darf sein, wie ich bin. Und ich darf versuchen, Worte zu finden für das, was ich niemals sagen konnte. Es macht meiner Therapeutin nichts aus, dass ich nahe am Wasser gebaut bin. Sie versteht das. Sie kann das aushalten.

 

Anfangs ging sie wöchentlich zum Gespräch. Allmählich wurden die Abstände größer. Bald wird sie die Gespräche nicht mehr brauchen. Sie hat Sicherheit und Selbstvertrauen gewonnen.

 

Vor einigen Monaten haben ihre Eltern Kontakt mit ihr aufgenommen. Sie sind inzwischen alt. Sie wollten, dass Monika die Vorsorgevollmacht übernimmt und sich bei Pflegebedürftigkeit und allem, was kommen könnte, um die alten Eltern kümmert. Sie betrachteten das als ihr gutes Recht. Anscheinend sind sie ohne Schuldbewusstsein. Anscheinend bedauern sie es gar nicht, was sie ihren Kindern angetan haben. Jedenfalls drücken sie kein Bedauern aus.

Mich schaudert, wenn ich an diese Situation denke. Welch eine Zumutung ist das!!! Ich wäre dem wahrscheinlich ausgewichen. Ich hätte das nicht auf mich genommen. Aber Monika hat sich gestellt.

 

Natürlich hat sie sich gut informiert. Was beinhaltet die Vorsorgevollmacht? Für was ist sie im Fall der Fälle verantwortlich? Es wurde ihr deutlich, dass sie eine Bankvollmacht von den Eltern braucht, damit sie Zugriff auf ihr Konto hat, wenn Kosten anfallen. Sie beschloss: „Ich werde die Vorsorgevollmacht nur dann übernehmen, wenn sie mir auch eine Bankvollmacht geben.“ Sie spielte das Gespräch mit ihrer Therapeutin durch. Sie bereitete sich gründlich vor. Die Therapeutin wusste, wie schwer es für Monika sein würde, dieses Haus zu betreten, in dem ihr so viel Gewalt angetan wurde. Sie hielt es für viel zu gefährlich. Sie schlug ihr vor, das Gespräch in einem öffentlichen Raum stattfinden zu lassen. Sie wäre sogar bereit gewesen, sich ganz unauffällig in einem solchen öffentlichen Raum aufzuhalten, damit sie im Notfall eingreifen kann. Monika wusste, dass ihre Eltern sich darauf nicht einlassen würden. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. Und sie betete. „Sei da, und bitte beschütze mich und leite mich!“ Und sie machte mit ihrer Therapeutin aus, dass diese am Telefon rufbereit ist, während Monika sich im Elternhaus aufhält.

 

Zur vereinbarten Stunde ging Monika in das Elternhaus. Sie hatte einen Ordner mit Unterlagen dabei. Sie hatte sich gut vorbereitet. Sie legte den Ordner und ihr Handy auf den Tisch. Sie erklärte den Eltern, dass sie grundsätzlich bereit ist, die Vorsorgevollmacht zu übernehmen und dass sie zusätzlich eine Bankvollmacht braucht. Ihre Eltern brausten auf. „Du willst ja nur unser Konto abräumen“, warfen sie ihr vor. Monika bekam fast keine Luft mehr. Sie merkte, dass sie einen Moment Abstand braucht, um nicht zu ersticken. Sie ging auf die Toilette. Als sie zurückkam, war ihr Handy verschwunden. „Gib mir sofort mein Handy zurück“, sagte sie zum Vater. Der wollte nicht. „Du gibst mir sofort mein Handy zurück“, sagte sie. „Sonst gehe ich, und ich übernehme gar nichts für euch!“ Der Vater erhob seine Hand, bereit zum Schlagen, so wie früher. Monika wich einen Schritt zurück und sagte: „Nimm deine Hand weg, sofort!“ „Sonst gehe ich, und ihr seht mich niemals wieder! Und du gibst mir sofort mein Handy zurück!“

Der Vater reichte ihr das Handy. Ihr Herz raste. Sie setzte sich nochmals mit den beiden an den Tisch. Sie redeten noch eine Weile. Sie versuchte, ihnen ruhig zu erklären, dass sie im Fall der Fälle Geld braucht, um einen Heimplatz oder häusliche Pflege oder eine Beerdigung zu bezahlen. Die Eltern ließen sich nicht darauf ein. Nach einer Weile verabschiedete sie sich.

 

Bis heute hat sie keine Bankvollmacht und keine Vorsorgevollmacht. Aber jetzt weiß sie: „Ich kann mich gegen meine Eltern wehren. Sie können mir nichts mehr tun. Ich bin frei, endlich!“

 

Wenn sie nun aus dem Haus geht, schaut sie nicht mehr vorsichtig umher, ob dort Vater oder Mutter stehen. Die riesengroße Angst und Beklemmung sind gewichen. Sie kann es selbst noch beinahe nicht fassen, wie es ist, ohne diese Angst zu leben. Das Leben fühlt sich so anders an. Sie wird es nochmals neu entdecken. Sie ist nicht mehr die Jüngste. Sie geht schon auf die 60 zu. Aber immerhin! Sie lebt, und sie ist frei.

 

Als sie mir davon erzählte, hatte sie Tränen in den Augen. Tränen voller Rührung und Dankbarkeit. Mein Herz ist voller Mitgefühl und Respekt und Staunen. Welch ein Lebensweg! Welch eine erstaunliche Stärke! Welch eine wunderbare Befreiung!

 

Als wir zusammen darüber nachdachten, fiel mir ein Psalmvers ein. Ich sagte ihr ihn.

“Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netz des Fängers.

Das Netz ist zerrissen,

wir sind frei. “ (Psalm 124,7)

Monika hatte diesen Vers noch nie gehört. Er sprach sofort zu ihr. Ich schlug ihr vor, das Bild des Vögelchens, das sich an Freiheit gewöhnt, zu ihrer Geschichte hinzuzusetzen. Dieser Vorschlag gefiel ihr sehr. Dieses Bild hatte schon länger zu ihr gesprochen - auch ohne den Psalmvers zu kennen, der dazu gehört.

 

Ich achte dich, Monika, mehr als ich es sagen kann. Du hast solche entsetzlichen Demütigungen durchgemacht und bist doch nicht hart und bitter und gewalttätig geworden. Du lebst aus dem Gottvertrauen und bezeugst es auf vielerlei Weise. Du hast dir Hilfe gesucht. Und du hast gelernt, dich zu wehren und für dich einzustehen. Und du vertraust uns diese Geschichte an. Danke dafür!

Möge etwas von deiner Stärke und deinem Gottvertrauen und deiner neu errungenen Freude überspringen auf alle, die diese Geschichte lesen. 

 

Gabriele Koenigs

 

 

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Hier singt Joan Baez als junge Frau von der Hoffnung: We shall overcome - we shall live in peace. Übersetzt: Wir werden überwinden - wir werden in Frieden leben. We are not afraid - Wir fürchten uns nicht! 

 

Dies Lied begleitet mich und Monika seit unserer Jugendzeit. Welch eine Hoffnung und Kraft steckt darinnen... Genau diese Hoffnung und Kraft brauchen wir auch heute. 

Viel Freude beim Anhören und Schauen und Mitsingen! 

 

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HIer spricht Martin Luther King jr. zu einer versammelten Gemeinde über das Lied "We shall overcome" und die Hoffnung, die ihn und viele bewegt und trägt. Das ist eine Originalaufnahme, so bewegend zu hören! 


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