So viel Licht und Leben

Damals in Niederhofen und anderswo.... Aquarell von Gabriele Koenigs (2009). Privatbesitz
Damals in Niederhofen und anderswo.... Aquarell von Gabriele Koenigs (2009). Privatbesitz

Auf dem Weg nach Schwaigern bin ich jeden Tag durch Niederhofen gefahren. Niederhofen ist ein Dorf, welches inzwischen nach Schwaigern eingemeindet ist. Ich bin als Kind und Jugendliche dort immer wieder hingekommen. Denn meine Großeltern und zwei ihrer Söhne waren dort beerdigt. Unsere Familie hat nach den Gräbern  geschaut. Das gab uns immer wieder einen Anlass, um nach Niederhofen zu kommen. 

 

Niederhofen war für mich als Kind eine fremde, faszinierende Welt. Wir kannten dort niemanden außer eine alte Frau, die Mesnerin in der Kirche gewesen war. Wir nannten sie "Fräulein Marie". Die Niederhofener nannten sie "Mesners Marie". Sie hat eine enge Verbindung zu meinem Großvater und seiner Familie gehabt. Darum waren wir, seine Enkelkinder, stets bei ihr willkommen. Sie lebte sehr ärmlich und bescheiden in einem kleinen, schiefen Häuschen gegenüber der Kirche. Sie hatte noch keine Wassertoilette. Bei ihr gingen wir auf ein "Plumpsklo". Das kannte ich als Kind sonst gar nicht. Sie hatte nur einen Wohnraum neben dem Stall.  Aber sie war gastfreundlich und herzlich. Bei ihr gab es Anisbrot und frische Brezeln vom Bäcker nebenan. Wir besuchten sie sehr gerne. 

 

 

Mein Großvater Ernst Koenigs war im Jahr 1942 als Pfarrer nach Niederhofen gekommen. Vorher war er  zwei Jahre im Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg gefangen gewesen. Eine Passage aus einer Predigt wurde ihm als Kritik an Hitler angekreidet. Durch die Fürsprache eines Verwandten, der eine einflussreiche Position in der Armee hatte, kam er gegen Ende des Jahres 1941 frei. Aber er durfte nicht in seine Gemeinde im Rheinland zurückkehren. Die württembergische Landeskirche nahm ihn und seine Familie auf. Er wurde mit der Versehung der Pfarrstelle in Niederhofen bei Heilbronn beauftragt. Die Haftzeit war für ihn und für seine Familie eine ganz schlimme Zeit gewesen. Nun waren sie froh und dankbar, wieder zusammen leben zu können. Sie hatten wieder ein Pfarrhaus und einen Garten und viele Aufgaben in der Gemeinde. Aber die Schrecken der Haft saßen ihnen in den Knochen. Und es waren die letzten Jahre des zweiten Weltkriegs. Die nahegelegene Großstadt Heilbronn wurde im Jahr 1944 bombardiert und zum großen Teil in Schutt und Asche gelegt. Der Feuerschein war bis Niederhofen zu sehen. Auch die Dörfer in der Umgebung wurden zum Teil von Bomben getroffen. Einer der Söhne meiner Großeltern kam mit einer Tuberkulose von der Front. Sie pflegten ihn, aber er starb nach kurzer Zeit. Als der Krieg endlich zu Ende war, gab es noch Blindgänger von den Kämpfen. Der jüngste Sohn meiner Großeltern fand eine Handgranate. Er nahm sie mit in das Dachzimmer des Pfarrhauses und spielte damit. Dabei explodierte sie. Dieser Sohn und zwei Kinder, die im Pfarrhaus einquartiert waren, starben. Wie entsetzlich! In Niederhofen erzählt man bis heute von dieser Tragödie. Immer wieder kommt jemand aus Niederhofen in meine Ausstellung und fragt nach diesen Geschehnissen. 

 

Unsere Vorfahren haben in Schreckenszeiten gelebt. Nach dem Ende des Krieges wurde vieles wieder aufgebaut. Der Wohlstand nahm zu. Das Leben wurde viel bequemer. Man sprach nicht mehr viel von den überstandenen Schrecken. Wahrscheinlich wollte man sich gar nicht daran erinnern. Auch mein Großvater sprach selten davon. Lieber sprach er vom Glauben an Jesus Christus. Es war ihm wichtig, diesen Glauben an seine Gemeinde und Familie weiterzugeben. Es war sein wichtigster Halt im Leben, schon damals in der Haft. JESUS LEBT! In seiner Gefängniszelle hatte mein Großvater nichts Persönliches. Nicht einmal seine Bibel hatte man ihm gelassen. Mitten in aller Grausamkeit und mitten in dem Spott und Hohn seiner Wärter brauchte er eine visuelle Erinnerung an das, was ihm Halt gab. Er riss Buchstaben aus den Überschriften des Völkischen Beobachters, der Propagandazeitung der Nazis, aus. Er setzte sie neu zusammen und formte daraus die Worte: JESUS LEBT! Er klebte sie mit Marmelade auf ein Stück Pappe. Diese Pappe hatte er bei sich, bis er starb. Auch mir hat er sie einmal gezeigt. 

 

Ich staune, welche Kräfte im Menschen sind. Menschen können größte Tragödien überstehen und wieder Mut fassen. Sie können zusammenhelfen und einander trösten und aufrichten. Sie können ihr Leben im Hier und Jetzt gestalten. Sie können neu anfangen. Sie können trauern, beten und singen und wieder fröhlich sein. Sie können lieben und hoffen und teilen. Sie können mitfühlen und barmherzig sein. Die Kraft dafür kommt nicht aus ihnen selbst.  

 

Viele Menschen, die in meine Ausstellung kommen, haben Schrecken überstanden. Manche erzählen davon. Anderen merke ich es an, auch ohne dass sie erzählen. Sie suchen nach Licht, nach Freude und Trost und Halt. Manchmal frage ich jemanden: "Wie geht es Ihnen mit diesen Bildern?" Oft höre ich dann: "Diese Bilder tun mir so gut!" "Es ist so viel Friede darinnen zu spüren, so viel Licht und Leben!" Ich bin sehr froh über solche Rückmeldungen. 

 

Heute ist der letzte Ausstellungstag in Schwaigern. Ich bin gespannt auf die Begegnungen mit den Menschen und ihren Geschichten. Bei der Finissage werden wir uns ein wenig darüber austauschen, was die Ausstellung den Menschen bedeutet hat. Ich bin gespannt darauf, was sie sagen werden. 

 

Ganz herzliche Grüße aus Schwaigern! Alles Liebe und Gute für Sie und für Euch! 

Gabriele Koenigs 


Der Choral "Jesus bleibet meine Freude" war für meine Großeltern sehr wichtig. Hier können Sie ihn hören, in der Vertonung von Johann Sebastian Bach. Es singt der Kammerchor Voces 8 aus England. Viel Freude dabei! 

 

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Und hier hören Sie den Gitarristen David Qualey mit einer Meditation über das Lied: "Freunde, dass der Mandelzweig...".

Die Worte dieses Lieds kommen von Schalom Ben-Chorin, einem Juden, der in Deutschland geboren und nach Israel emigriert ist. Sein Gedicht ist im Jahr 1942 entstanden. 

 

Freunde, dass der Mandelzweig

Wieder blüht und treibt,
Ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt?

Dass das Leben nicht verging,
Soviel Blut auch schreit,
Achtet dieses nicht gering,
In der trübsten Zeit.

Tausende zerstampft der Krieg,
Eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg
Leicht im Winde weht.

Freunde, dass der Mandelzweig
Wieder blüht und treibt,
Ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt?

 

 


Heute ist die letzte Gelegenheit, meine Ausstellung in Schwaigern zu besuchen. Am Abend um 18 Uhr setzen wir mit der Finissage einen Schlusspunkt daran. Ich freue mich über alle, die kommen und mit uns anstoßen und erzählen, wie es ihnen mit dieser Ausstellung gegangen ist. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Gudrun (Sonntag, 27 Juli 2025 08:23)

    Eine ergreifende Familiengeschichte unsrer Zeit! Wie könnte uns dies unberührt lassen? In all dem leidvollen Geschehen doch ein Weg heraus ins Licht und in das liebevolle Miteinander ! Auch so sieht das Bewahren unseres liebenden GOTTES im Angesicht JESU aus und ermöglicht neues Leben. Danke, dass du, liebe Gabriele, uns dies aus deiner Familie, erzählt hast!